We shall overcome

Wer wie ich Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts seine Jugendzeit verbracht hat, an dem und an der ist dieses Lied der Bürgerrechtsbewegung nicht vorbeigegangen. Wie oft haben wir es am Lagerfeuer gesungen!

Zwischenruf 7.6.2020 zum Nachhören (bis 6.6.2021):

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Aber damals war der Kontext seiner Entstehung schon verblasst. Der berühmte Baptistenpastor und Bürgerrechtsaktivist Martin Luther King ist vor meiner Geburt ermordet worden. „We shall overcome some day — wir werden das überwinden, eines Tages“, das lag aus meiner Perspektive nicht in einer fernen Zukunft, sondern in der Vergangenheit.

Esther Handschin
ist Pastorin der evangelisch-methodistischen Kirche

Wir werden das überwinden

Die USA, aus der dieses Lied stammt, ist derzeit in Aufruhr, trotz der Pandemie. Nach dem tödlichen Polizeiübergriff auf George Floyd gehen viele Menschen auf die Straße. Sie wollen es nicht hinnehmen, dass afroamerikanische Mitbürger und Mitbürgerinnen nicht nur offensichtlich diskriminiert, sondern auch getötet werden. „Black lives matter – schwarzes Leben zählt“, heißt es auf den T-Shirts und Plakaten. Die Beteiligung ist breit, weit über die Black Community hinaus und der Protest verläuft weitestgehend friedlich.

Der Präsident dieses Landes versucht dem Aufruhr mit Mitteln der Stärke zu begegnen. Er fordert Härte gegen die Protestierenden und deutet in Kurznachrichten die Bereitschaft zu gewaltsamen Reaktionen an. (Die Nationalgarde wird in die Hotspots geschickt, das Militär mobilisiert.) Der Protest flaut hingegen nicht ab. Nach einer Pressekonferenz geht der Präsident zur nächstgelegenen Kirche, mit einer Bibel in der Hand. (Den Weg dorthin haben ihm Polizisten freigeprügelt.) Für mich sieht das aus, als würde er nach erfolglosen Versuchen nun die Hilfe des Höchsten in Anspruch nehmen wollen.

Pandemie des Rassismus

Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Kirchen haben jetzt das Wort ergriffen. Bischöfin Budde, die für die anglikanische Kirche zuständig ist, vor der der Präsident posierte, reagiert empört: „Der Präsident hat weder gebetet als er nach St. John kam, noch hat er verstanden, was das Land derzeit lähmt.“ Der für Minneapolis zuständige methodistische Bischof Bruce Ough meint: „Zusätzlich zum Kampf gegen Covid-19 werden wir von einer Pandemie des Rassismus, der Vorherrschaft der Weißen und der Gewalt von Weiß gegen Schwarz oder Braun heimgesucht.“

Zwischenruf
Sonntag, 7.6.2020, 6.55 Uhr, Ö1

Der Inhalt des Buches, das der Präsident in die Höhe hielt, zielt in seinen Grundzügen nicht auf Gewalt ab. Es erzählt die große Geschichte eines kleinen Volkes auf dem Weg durch die Wüste. Die vorausgehende Befreiung aus der Sklaverei hat später vielen Unterdrückten in ihrem Elend Hoffnung vermittelt, gerade auch den schwarzen Sklaven Amerikas. Jesus von Nazareth lebt, geprägt von den Weisungen dieses Volkes, wo Fremde, Witwen und Waisen unter besonderen Schutz gestellt sind, die Nähe zu den Menschen, die an den Rand gedrängt werden. Das wird von denen, die ihm nachfolgen, als die Zuwendung Gottes zu den Menschen verstanden, die ihr Dasein im Schatten der Gesellschaft fristen.

„We shall overcome some day – eines Tages werden wir das überwinden“, das liegt nicht in der Vergangenheit und es soll nicht erst in einer fernen Zukunft liegen. Und es betrifft nicht nur die USA. Rassismus und Diskriminierung gibt es auch in Österreich. Aber wenn wir genauso aktiv gegen die Pandemie des Rassismus vorgehen wie gegen Covid-19, dann liegt das in einer erreichbaren Gegenwart. Wir werden das überwinden.