Die Macht des Geldes

Auf Probe gehen: „Diese Floskel bedeutet bei einem Jungen aus dem Armenhaus, dass der Lehrherr, wenn er nach kurzer Probezeit feststellt, dass er aus dem Jungen mehr Arbeitskraft herausbekommt, als er Essen in ihn hineinsteckt, denselben für einige Jahre überlassen bekommt, um nach Belieben über ihn zu verfügen.“

Gedanken für den Tag 12.6.2020 zum Nachhören (bis 11.6.2021):

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Was hier nach ausbeuterischem Praktikum oder moderner Leiharbeiterschaft klingt, ist fast 200 Jahre alt, eine Passage aus Charles Dickens’ Roman „Oliver Twist“. Von 1837 bis 1839 in monatlichen Fortsetzungen geschrieben, erzählt Dickens darin auch die beginnende Industrialisierung und ihre Folgen. 30 Jahre bevor Karl Marx „Das Kapital“ veröffentlichte, thematisierte Dickens in seinen journalistischen und literarischen Texten nicht nur die Ausbeutung des Menschen als Humankapital, sondern auch die Macht des Geldes.

Brigitte Schwens-Harrant
ist Literaturkritikerin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung „Die Furche“

Geschärfter Blick auf zunehmenden Kapitalismus

Im Unterschied zu Marx, der die Literatur von Charles Dickens bewunderte, ging es Dickens nicht um die Veränderung der Produktionsmittel, es ging ihm auch nicht um das Umstürzen gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern um Herzenswärme. Er selbst wusste wie kaum ein anderer seiner Zeit die ökonomischen Seiten des Literaturbetriebs zu bespielen. Er verstand sein Schreiben auch als Geschäft, das seine Familie mit zehn Kindern unterhalten musste. Spürbar die Angst, aus dem erreichten Leben wieder zurückzufallen in die Armut.

Er übte und inszenierte seine Auftritte, las vor Tausenden Zuhörern, schrieb an mehreren Fortsetzungsromanen gleichzeitig, wusste die Quote zu bedienen, verhandelte beinhart seine Verträge, erhielt vor den Lesetouren enorme Voraushonorare und machte sich auf einer USA-Reise unbeliebt, weil er vehement für das Urheberrecht eintrat. Und er hinterließ nach seinem Tod am 9. Juni 1870 ein Vermögen, das heute umgerechnet einen zweistelligen Millionenbetrag ergäbe. Dass er in seinem Testament nichts davon einer sozialen Einrichtung oder Stiftung zukommen ließ, verwundert angesichts seiner Themen und wurde ihm ebenso vorgeworfen wie der Umgang mit seiner Frau, die er äußerst unschön verließ.

An der Kraft seiner Werke ändert Dickens eigenes Leben und Verhalten nichts. Sie schärfen - erschreckend aktuell - den Blick für die sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen im zunehmenden Kapitalismus.

Musik:

Filmorchester unter der Leitung von David Snell: „Main titles“ aus: NICHOLAS NICKLEBY / Original Filmmusik von Rachel Portman
Label: Varese Sarabande VSD 6435