Bibelessay zu Matthäus 9,36–10,8

Heute ist Vatertag. Und ich finde, das heutige Evangelium, das in katholischen Gottesdiensten gelesen wird, passt eigentlich sehr gut zu diesem Tag, obwohl Jesus von Nazaret darin nicht von Vätern spricht und sich schon gar nicht selbst als Vater bezeichnet. Trotzdem erinnert mich Jesu Verhalten in diesem Text sehr an das Verhalten eines guten Vaters.

Was zeichnet einen guten Vater aus? Darüber gehen die Meinungen auseinander, aber ich finde vor allem eines: Dass er seine Kinder ihrem Alter entsprechend behandelt. Dass er die Kleinen nicht überfordert und die Größeren nicht überbehütet und dadurch am Erwachsenwerden hindert. In dieser Hinsicht ist Jesus im heutigen Evangelium ein idealer Vater. Er unterscheidet ganz genau, wem er was zutrauen kann. Zu Beginn des Textes sieht er die vielen Menschen, die „wie Schafe ohne Hirten“ sind. Sie brauchen wie kleine Kinder jemanden, der sich um sie sorgt, der sie behütet. Und Jesus verhält sich zu ihnen dementsprechend. Er kümmert sich um ihre Betreuung wie ein guter Vater, der sein kleines Kind an der Hand nimmt.

Elisabeth Birnbaum
ist katholische Theologin und Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks

Jesus, der gute Vater

Seine 12 Jünger dagegen behandelt er ganz anders. Er fordert sie immer wieder heraus, er überträgt ihnen anspruchsvollere Aufgaben und lässt sie daran wachsen. Das ist meiner Meinung nach das Idealverhalten eines Vaters zu seinen größeren Kindern. Nicht viele Väter können das. Ich finde es ungemein mutig von Jesus, seinen Jüngern so große Aufgaben zuzutrauen, ja eigentlich sogar zuzumuten: Die Jünger sollen laut dem Text nicht weniger als Tote auf(er)wecken und Dämonen austreiben, Dinge also, die sie nie gelernt haben, die ihr Können eigentlich übersteigen. Ich stelle mir vor, dass die Jünger manchmal überfordert waren von der großen Aufgabe. Andererseits muss es sie sehr stolz gemacht haben, dass sie, die Menschen aus einfachen Verhältnissen, die Fischer oder Zöllner, von Jesus für würdig befunden worden sind, solche großen Aufgaben zu übernehmen.

Lebenskunst
Sonntag, 14.6.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Und wie ein guter Vater lässt Jesus sie mit der Aufgabe nicht völlig allein, sondern stattet sie „mit Vollmacht aus“, wie es im Text heißt. Er gibt ihnen also Hilfsmittel in die Hand. Außerdem schränkt er die gewaltige Aufgabe auch ein wenig ein, wenn er sie nur zum Haus Israel, also zu den eigenen Glaubensangehörigen schickt und nicht gleich zu allen Menschen. Diese Einschränkung verstehe ich nicht als kleinliche Abgrenzung zu „den Anderen“, sondern eher pragmatisch als Erleichterung für die Jünger. Sie sollen ihre Kräfte bündeln und zunächst einmal das Naheliegende tun. Gleich alles allen zu geben, würde vermutlich ihre Kräfte übersteigen und die Wirkung verpuffen lassen.

Jesus schickt seine „Kinder“- so könnte man sagen - also nicht unvorbereitet auf ihren Weg. Aber er lässt sie dann alleine gehen und sich bewähren. Das ist für Väter ja oft das Schwierigste, das Loslassen, die Kontrolle über die Kinder aufzugeben. Jesus nimmt seine Jünger ernst und sie können an ihren Aufgaben reifen und sein Vertrauen belohnen.

Die Kleineren zu umsorgen und die Größeren zu ermutigen, das Geschenkte wieder weiterzugeben: Das ist für mich die zentrale Botschaft des heutigen Textabschnittes – nicht nur für Väter und nicht nur zum heutigen Vatertag.