Bibelessay zu Matthäus 13,1-13

Tatsächlich habe ich in letzter Zeit an kaum eine andere Textstelle der Bibel häufiger gedacht als an dieses Gleichnis vom Sämann. Ich habe Gras angesät – und mir natürlich Gedanken gemacht, was mit den Samen passiert. Ob der Boden gut genug ist. Ob die Samen genügend Wasser haben. Was geschieht, wenn auf die gerade gekeimten Halme die Sonne brennt.

Unmittelbar nahe war mir da dieser Text, die Erfahrung des Sämanns, der das jedes Jahr immer wieder macht. Und ich sehe förmlich das Nicken von Jesus‘ Zuhörerschaft vor mir, die das ebenfalls aus eigener Erfahrung kennt oder als Bewohnerinnen und Bewohner einer agrarischen Gesellschaft jedenfalls eine Idee davon hat, wie es so ist mit dem Samen und dem Boden, auf den er fällt.

Mirja Kutzer
ist Professorin für Systematische Theologie an der Universität Kassel

Wohin die Saat fällt

Ein gut verständliches Bild also, das Jesus aus Nazareth hier bemüht, so möchte man meinen. Es begegnet als Teil der großen Gleichnisrede, die der Verfasser des Matthäusevangeliums in das Zentrum seines Textes gestellt hat. Hier sammelt er viele von Jesus‘ Bildworten und interpretiert sie dahingehend, dass sie alle um eines kreisen: das, was er das Kommen des Reiches Gottes nennt und wie dieses die Welt umzuwandeln vermag. Der Boden, auf den der Samen fällt – er ist ein Bild für das Handeln von Menschen. Wenn Menschen sich verändern, wenn sie sich von Jesus‘ Worten berühren lassen, wenn sie anders, mitfühlender, gerechter handeln, dann verändert sich auch das Leben auf der Welt. Dann geht der Samen auf. Und bis heute ist es eine unmittelbar ansprechende Redewendung, dass ein Wort auf fruchtbaren Boden fällt.

Historisch ist es aber schon bald zu einer Uminterpretation der Gleichnisrede Jesu gekommen, die sich auch im Text des Evangeliums niederschlägt. Sie ist der großen Frage geschuldet, die sich die Jüngerinnen und Jünger Jesu und später die frühe Kirche stellen. Warum sind die Worte Jesu, die sie selbst so überzeugt haben, nicht bei allen gut angekommen? Warum haben nur sie in Jesus den gottgesandten Messias gesehen, und nicht das ganze Volk Israel? Zugeschrieben wird dies nicht zuletzt der uneindeutigen, bildreichen Rede Jesu: Schon der Evangelist Matthäus interpretiert die Gleichnisse als eine Form der Verdunkelung. „Warum redest du zu ihnen in Gleichnissen?“ So lässt er die Jüngerinnen und Jünger im Anschluss an den Sämann-Text fragen. Und Jesus‘ Antwort im Text ist mehr oder minder: Er wollte so deutlich gar nicht sprechen, denn es sollten ihn gar nicht alle verstehen. Das Reich Gottes wird in dieser Darstellung zum Geheimnis für Auserwählte. Die poetische Form zu einer Rede für Eingeweihte.

In welcher Welt wir leben wollen

Die Frage der Jüngerinnen und Jünger bei Matthäus reicht damit tiefer als die Interpretation des Sämanngleichnisses. Sie dreht sich um die Art und Weise der Reich Gottes-Botschaft selber. Grundsätzlich ist die Botschaft vom Reich öffentlich. Jesus spricht in den Synagogen, auf Plätzen und Wegen. Die basileia tou theou, also aus dem Altgriechischen ins Deutsche übersetzt: die Königsherrschaft Gottes, ist entsprechend kein Sonderwissen, das hinter verschlossenen Türen geteilt wird. Und was Jesus zu sagen hat – es ist auch für die Öffentlichkeit gedacht. Mit seinen Erzählungen will er etwas verändern, das Zusammenleben von Menschen beeinflussen. Warum aber dann Gleichnisse – diese poetische, uneindeutige Sprachform? Wäre eine eindeutigere, klarere Sprache überzeugender gewesen? Und hätte sich Jesus beim Erzählen nicht wenigstens Gott ins Spiel bringen können? Denn selbst das tun viele dieser Texte nicht.

Lebenskunst
Sonntag, 12.7.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum hat poetischen Erzählungen, wie es auch die Gleichnisse sind, ein politisches Potential zugesprochen. Sie reden nicht über hard facts, verkünden keine ewigen Wahrheiten, sie zwingen niemanden, sich auf die von ihnen entworfenen Szenarien einzulassen und mitunter scheint das Verhalten der Protagonisten wenig ökonomisch oder rational. Ihre Stärke: Sie haben Charme – eine Anziehungskraft, die unsere Fantasie beflügelt oder uns sensibler macht für die Bedürfnisse anderer. Unsere Welt, so führen gerade die Gleichnisse vor Augen, könnte anders, womöglich besser aussehen. Wir könnten gerechter sein, Armut hinter uns lassen, niemand würde mehr ausgegrenzt. Für heute weitergedacht: Race und class könnten zu unnötigen Kategorien werden, weil wir niemanden mehr benachteiligen. Die Lagune in Venedig wäre durchgängig klar und voller Fische, weil wir nachhaltiger leben.

Haben wir diese Fähigkeit verloren, in derart charmanten Bildern zu reden? Tun wir sie zu schnell als Romantik ab, oder werfen ihnen mangelnden Realismus vor? Dabei, so denke ich, machen solche poetischen Erzählungen wie die Gleichnisse sie sind, vor allem eins: Sie stellen uns die Frage, in welcher Welt wir leben wollen.