Bibelessay zu Matthäus 16,21-27

„Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden.“ Für mich ist dieser Satz, den Jesus aus Nazareth in diesem Evangelientext spricht, immer wieder eine Provokation.

Er widerspricht jenem Wert, der uns gesellschaftlich seit längerem als erstrebenswert vermittelt wird: möglichst viel aus dem eigenen Leben herauszuholen – Glück, Wohlstand, Anerkennung, Erfolg, Karriere.

Regina Polak
ist Theologin und Religionssoziologin

„Wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden“

Gleichwohl bezeugt dieser Satz eine Glaubenserfahrung, die zum innersten Kern der biblischen Botschaft gehört. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte derer, die ihr Leben auf jenen Gott setzen, von dem die Bibel erzählt: Wer sein Leben an Gott bindet und seinem Gesetz, seiner Ethik treu ist, kann in schwierige, ja, sogar lebensbedrohliche Situationen geraten und auf der Seite der Ohnmächtigen und Opfer, der Verachteten und Verlierer landen.

Was soll daran tröstlich sein? Worin besteht die Frohe Botschaft angesichts solcher Zukunftsaussichten, wenn man als Christin oder Christ Jesus nachfolgen möchte?

Keine Absicherung von Eigeninteressen

Zunächst: Das Jesus-Wort ist im Indikativ als Glaubens-erfahrung formuliert, nicht als moralischer Appell. Vor allem Anspruch, das eigene Leben um Christi willen zu verlieren, steht die Erfahrung einer tiefen, persönlichen Freiheit und das Bewusstsein um den Wert des eigenen Lebens. Ohne zu wissen, wie wertvoll und zugleich frei ich selbst bin, käme die Bereitschaft, mein Leben für etwas oder jemanden anderen einzusetzen, einer Selbstaufgabe gleich. Dieses Wissen um meine Freiheit und meinen Wert aber ermöglicht mir persönlich mein Glaube an Gott. Niemand kann mir dies nehmen. Allein das ist für mich schon echter Trost.

Lebenskunst
Sonntag, 30.8.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Nachfolge bedeutet eben nicht Selbst-Aufgabe, sondern Selbst-Hingabe. Dazu muss ich aber um mein Selbst wissen und, aus biblischer Sicht, dessen untrennbare Verbindung mit Gott erfahren haben. Das Jesus-Wort schildert daher eine spirituelle Erfahrung. Erst auf deren Basis kann daraus eine sinnvolle ethische Handlungs-Orientierung werden – immer noch anspruchsvoll.

Leben wiederum bedeutet im biblischen Sinn immer mehr als das bloße physische, biologische Leben. Leben – damit ist in der Bibel immer auch Beziehung gemeint, Geist, die Fülle der Möglichkeiten meines Handelns. Das eigene Leben hingeben – „verlieren“ – bedeutet demnach: aus freiem Willen die eigenen Talente, Fähigkeiten, Begabungen, Ideen für das Leben anderer einsetzen, ohne dabei die Absicherung von Eigeninteressen im Blick zu haben. Was für eine Herausforderung!

Dynamik vom Tod zum Leben

Mir selbst fällt das alles andere als leicht. In der Regel ist meine Motivation durchwachsen, eine Mischung aus sozialen und Eigeninteressen. So werden das wohl die meisten Zeitgenossinnen und -genossen handhaben. Lebensberater, Psychotherapeutinnen, Supervisoren sagen uns auch, dass das nötig und richtig ist. Und sie haben ja auch Recht: Sein Leben für etwas aufs Spiel zu setzen, ohne über die dabei möglichen Risiken und Gefahren nachgedacht zu haben, oder sich gar dazu gezwungen zu sehen, ist auch nicht im Sinne des Jesus-Wortes.

Aber dennoch: Das Wort Jesu ist anspruchsvoller als solcher Interessensabgleich. Es bleibt ein Stachel im Fleisch. Ich möchte es nicht abschwächen oder verharmlosen. Jesus-Nachfolge kann tatsächlich das Leben beeinträchtigen. Freilich: Die Momente, in denen ich tatsächlich von mir absehen und selbstvergessen für andere etwas tun konnte, haben mich gelehrt: In ihnen liegt für mich großes Glück. Deshalb kann ich erahnen, dass mir mein Glaube helfen kann, auch in der größten Not Lebensfülle zu erfahren.

Das bezeugen für alle, die daran glauben, Tod und Auferstehung Jesu – die Dynamik vom Tod zum Leben, die laut biblischem Zeugnis der Schöpfung innewohnt. Nicht, dass mir die Konsequenzen der Nachfolge keine Angst machen würden: Aber in der biblischen Verheißung liegen für mich Trost, Hoffnung und die Kraft zum Mut, das eigene Leben auch in schwierigen Zeiten für andere einzusetzen.