Zwischenruf 20.9.2020, Thomas Hennefeld

Land der Furcht, Land des Sehens

Seitdem die Bilder vom brennenden Flüchtlingslager auf der Insel Lesbos um die Welt gingen, ist das Wort Moria in aller Munde.

Morija ist aber nicht nur der Name eines Dorfes auf der griechischen Urlaubsinsel Lesbos, sondern auch ein alter biblischer Name. Im 1. Buch Mose ist es der Ort eines dramatischen Geschehens. Abraham erhält den Auftrag, seinen Sohn Isaak dort zu opfern. Er ist dazu bereit. Im letzten Augenblick hält ein Engel Abraham davon ab, dieses Opfer zu bringen. Es ist unsicher, was die ursprüngliche Bedeutung des Wortstammes Morija ist. Sie könnte „fürchten“ aber auch „sehen“ sein. Morija, das Land der Furcht oder das Land des Sehens.

Thomas Hennefeld
ist Landessuperintendent der evangelisch-reformierten Kirche in Österreich

Weltbild der Antike

Das Flüchtlingslager Moria hatte den Zweck, Asylwerberinnen und Asylwerber zu registrieren und dort festzuhalten, bis zur Entscheidung des Asylverfahrens. Sie sollten möglichst fern vom gelobten Land Europa gehalten werden. Das Lager an den Toren Europas mit zuletzt an die 20.000 Menschen war vielen wie ein Mahnmal für die Ignoranz und die Kaltschnäuzigkeit einer Gemeinschaft, die so stolz auf ihre abendländischen Werte und ihre Kultur ist.

Hat sich dieses Weltbild seit der Antike nicht geändert? Jenseits unserer Zivilisation leben die Barbaren, und wehe, sie kommen uns zu nahe. Dann müssen sie damit rechnen, dass sie im Mittelmeer ertrinken oder irgendwo anders elend zugrunde gehen. Wenigstens nach diesem Flammeninferno in Moria haben sich einige Politikerinnen und Politiker in Europa erweichen lassen und angeboten, Schutzsuchende aus dem abgebrannten Lager aufzunehmen.

Zwischenruf
Sonntag, 20.9.2020, 6.55 Uhr, Ö1

Und Österreich? Da gab es sehr unterschiedliche Reaktionen von Seiten der Staatsspitze. Der Bundespräsident etwa betonte, dass geflüchtete Menschen, besonders Kinder ohne Eltern, jetzt unsere Hilfe brauchen und hat damit indirekt wohl die Aufnahme dieser Menschen auch bei uns gefordert. Der Innenminister meinte, dass gewaltbereite Migranten keine Chance auf Asyl in Europa hätten. Der Außenminister führte wortreich aus, dass die Aufnahme ein falsches Signal wäre, weil sich dann das Lager erst recht wieder mit neuen Flüchtenden füllen würde.

Engel gibt es

Der Bundeskanzler zeigte sich betroffen, aber diese Betroffenheit müsse er aushalten. Eine Aufnahme auch nur weniger Menschen aus dem Lager könne er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren. Dafür helfe man vor Ort. Die mitgelieferte Botschaft, wie ich sie verstehe: Die Geflüchteten sollen sehen, was mit ihnen geschieht, und sie sollen sich ruhig fürchten. Das ist die beste Abschreckung für alle, die mit dem Gedanken spielen, sich auch nach Europa aufzumachen.

Angesichts dieses Verhaltens hat sich in den letzten Tagen für mich die Frage gestellt: Wie viele Menschen sind wir bereit zu opfern, wie einst der biblische Abraham? Wir werden immer wieder auf die Probe gestellt, aber welcher Engel bringt uns dazu, uns für das Leben einzusetzen.

Diese Engel gibt es. Sie helfen in den Lagern und tragen dazu bei, Leid zu lindern. Für mich sind solche Engel auch jene, die unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit Schutzsuchende aufnehmen möchten. Ich kann nur empfehlen, uns von diesen Engeln leiten zu lassen. Das ist für mich einfach ein Gebot der Menschlichkeit.