Mittwoch, 23.9.2020, Michael Bünker

Das Geheimnis der Erlösung

Zum 80. Todestag von Walter Benjamin. 1915, mitten im Krieg, lernte Walter Benjamin den fünf Jahre jüngeren Gerhard Scholem kennen. Die beiden werden lebenslange Freunde.

Scholem wurde später zu dem Kenner der jüdischen Mystik, der Kabbala. In den 1920er Jahren ging er nach Palästina, wo er als Gershom Scholem lebte und an der Universität lehrte. Durch ihn entdeckte Benjamin die Theologie des Judentums.

Michael Bünker
ist evangelischer Theologe

Der revolutionäre Augenblick

Schon ein Jahr nach dem Beginn ihrer Freundschaft entstand Benjamins Schrift: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“. Darin legt er auch die Schöpfungserzählung der Bibel, das Buch Genesis, aus. Alle Dinge und Lebewesen haben ihre Sprache, so Walter Benjamin, doch nur der Mensch ist berufen, ihnen einen Namen zu geben. Mit dieser Namensgebungs-Vollmacht vollendet der Mensch erst die Schöpfung.

Freilich: Walter Benjamin ist kein Theologe und ganz bestimmt kein im gewohnten Sinn religiöser Mensch. Die Theologie tritt in seinem Werken zunehmend in den Hintergrund. Aber sie bleibt immer wirksam. „Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen“, schrieb er einmal.

Besonders der Messianismus durchzieht das gesamte Werk Walter Benjamins. Dafür ist er von manchen Freunden auch scharf kritisiert worden. Bertolt Brecht etwa fand seine Verbindung von Materialismus und Messianismus einfach „schauderhaft“. Doch Benjamin blieb dabei. Messianismus bedeutete für ihn nicht, sich eine erstrebenswerte Zukunft, ein besseres Morgen, irgendeine Utopie auszumalen. Nur die Sieger träumen vom Fortschritt. Für die Opfer, die Toten, die Unterdrückten bleibt die Erwartung einer ganz anderen Zukunft. Im Vergangenen muss der Funke der Hoffnung entzündet werden. Benjamin griff auf die jüdische Tradition des Gedenkens zurück.

„Das Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung“, heißt es doch in der jüdischen Tradition. Erst durch die Erlösung der Vergangenheit kann in der Zukunft jeder Augenblick zu der Pforte werden, durch die der Messias eintritt. Das ist der revolutionäre Augenblick.

Musik:

London Sinfonietta unter der Leitung von David Atherton: „Die Ballade vom angenehmen Leben. Foxtrott“ aus: Kleine Dreigroschenmusik – Suite für Blasorchester aus der „Dreigroschenoper“ von Kurt Weill
Label: DG 4232552