Montag, 19.10.2020, Rainer Bucher

Unbehaust und geborgen zugleich

Heimat ist kein Ort, kein Raum, sondern ein Gefühl. Freilich entsteht es an bestimmten Orten und an anderen eben nicht. Heimat ist das Gefühl der selbstverständlichen Einbettung in die Umgebung, in der man lebt. Heimat haben heißt: umgeben zu sein von einem wohlgesonnenen Raum. Heimat: Das ist dort, wo man sich nicht erklären muss.

Heimat identifiziert Orte personal und Personen über Orte. Der Effekt ist schlagend: Diese Operationen heben nicht nur die Umgebungsspannung auf, sondern auch die zeitliche Spaltung der Existenz in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Man ist im glücklichen Jetzt: Hier, wo ich bin, ist es, wie es immer sein sollte.

Rainer Bucher
ist katholischer Theologe und Professor an der Karl-Franzens-Universität in Graz

Eine schöne Illusion

Das gelingt freilich nur kurz. Das eigentliche Heimatgefühl ist das Heimweh. Heimat ist eine Leerstelle. Denn die Differenz zwischen uns und allem anderen kann man gestalten, nie aber wirklich aufheben. Wir sind aus der ursprünglichen Geborgenheit geworfen, spätestens seit wir aus dem Schoß unserer Mütter hinausgetrieben wurden. Wahrscheinlich ist das Leben ein einziger nie endender Versuch der Wieder-Beheimatung. Es ist eine der zentralen Aufgaben menschlicher Existenz, beides zu akzeptieren: die tiefe Sehnsucht nach Heimat – und dass sie nie wirklich erfüllt wird.

Sicher: Es gibt immer mal wieder Erfahrungen von Heimat. Sie ist dann die Außenwelt als eigene Innenwelt oder eben die eigene Innenwelt ins Außen verlängert. Das ist natürlich eine Illusion, aber eine schöne. Sie tut gut und macht glücklich. Heimat gibt es zwar nicht wirklich, aber wir sind immer mal wieder kurz in ihr. Aber sobald „Heimat“ auch nur thematisiert wird, ist sie eigentlich schon verloren. Genau genommen ist man nur in ihr, wenn man gerade nicht merkt, in ihr zu sein. Da geht es der Heimat ähnlich wie der mit ihr nahe verwandten „Identität“. Beides sind Sehnsuchtsbegriffe, die sagen: „Das will ich gerne haben.“ Zugleich aber signalisieren sie: Etwas fehlt immer, irgendwie.

Musik:

Duo Crommelynck: "Walzer in E-Dur op. 52 Nr. 1 für Klavier zu vier Händen von Johannes Brahms
Label: Claves CD 50.8711