Dienstag, 20.10.2020, Rainer Bucher

Religion und Heimat

Heimatsehnsucht gibt es in einer progressiven und einer reaktionären Variante. Bei Ernst Bloch etwa schafft der arbeitende Mensch in „realer Demokratie“ etwas, so das berühmte Zitat, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“

Das ist natürlich um vieles besser als der naturalisierte Heimatbegriff, der aktuell wieder erstarkenden romantischen Reaktion. Aber die Welt ist auch progressiv politisch nicht in Heimat umzubauen.

Es ist verständlich, dass man gerne eine Heimat oder eine stabile Identität hätte. Wer möchte nicht wissen, wer er ist, und wer möchte nicht, dass er sich dort, wo er ist, angenommen fühlt? Das Problem sind nicht diese Sehnsüchte. Problematisch wird es – wie bei allen Sehnsüchten –, wenn man meint, man hätte ein Recht darauf, dass sie sich erfüllen.

Rainer Bucher
ist katholischer Theologe und Professor an der Karl-Franzens-Universität in Graz

Wer bist du unter diesen Anderen?

Nun leben wir in Zeiten, in denen die Vergangenheit nur noch bedingt brauchbar ist, die Gegenwart offenkundig unüberschaubar wurde und die Zukunft ziemlich unübersehbar geworden ist. Der Zustand des quasi selbstverständlichen Beheimatetseins in der sozialen Welt ist schon länger nicht mehr so einfach zu haben. Freilich meinte man lange, die Zukunft halbwegs in den Griff zu bekommen. Man ist da heute zu Recht um einiges vorsichtiger; es geschieht einfach zu viel Unvorhergesehenes. Die von uns in Gang gesetzten kulturellen und technologischen Entwicklungen produzieren hinter unserem Rücken eine Eigendynamik, die vor uns als unvorhergesehene, ja unvorhersehbare Ereignisse wieder auftauchen.

Quasi selbstverständliche Existenz gibt es da für niemanden mehr. Das ist die zentrale Herausforderung der Gegenwart. Das andere unserer selbst wird uns ständig präsentiert und stellt die Frage: Wer bist Du unter diesen Anderen? Diese Konstellation ist übrigens kein Gegenstand freier Entscheidung. Wer meint, ihr in regressive Harmonie-Idyllen entgehen zu können, ist ihr nur ganz besonders unglücklich verfallen. Gerade er oder sie werden sich schnell nicht mehr zu Hause fühlen in der realen, bunten, leicht chaotischen und sich ständig verändernden sozialen Welt – und immer verzweifelter nach Beheimatung rufen. Es ist aber eigentlich gar nicht so schwer, diese Vielfalt zu mögen. Freilich braucht man dazu vor allem eines: Gelassenheit oder – christlich – Gottvertrauen.

Musik:

Alma: „Fly me to the moon“ von Bart Howard
Label: Col legno WWE 1CD20310