Donnerstag, 22.10.2020, Rainer Bucher

Einsicht in die eigene Heimatlosigkeit

Religion, so schrieb der Philosoph Alfred North Whitehead, ist das, was das Individuum aus seinem eigenen Solitärsein macht. Sie ist die Einsicht in das Einzig-Sein, in das Auf-sich-gestellt-Sein, das Mit-sich-zuletzt-Alleinsein des Menschen. Anders gesagt: Religion ist Einsicht in die eigene Heimatlosigkeit.

Diese Einsicht in die unüberwindbare Trennung von allem anderen, was ist, mit dem man aber zugleich auf je spezifische Weise sich verbunden erfährt, diese Einsicht erschreckt und fasziniert. Vor allem aber fordert sie eine Strategie, ein Gesamtverhältnis aufzubauen zu allem, was ist.

Rainer Bucher
ist katholischer Theologe und Professor an der Karl-Franzens-Universität in Graz

Religion tut genau dies

Die metaphysische Heimatlosigkeit der Neuzeit und der gefühlte Heimatverlust der Gegenwart sind also nicht wirklich neu. Sie warten bereits im Grund jeder Religion. Denn diese ist ein Weg, mit jener Heimatlosigkeit umzugehen. Sobald man das entdeckt hat, kann man auch nicht mehr einfach in einer religiösen Heimat un-irritiert beheimatet sein. Denn gerade die Religionen sagen: Heimat, wirkliche Heimat, gibt es nur bei Gott – oder wie immer in den Religionen die Chiffre für eine Existenz jenseits menschlicher Bedingtheit und Begrenztheit lautet.

Im christlichen Glauben hat es mit dieser Dialektik von Heimat und Heimatlosigkeit aber nun eine besondere Bewandtnis. Das Zentrum des christlichen Glaubens ist Jesus Christus. Das Zentrum des Wirkens Jesu aber, das, was ihn ausmacht, ist seine Botschaft vom Reich Gottes. Das Spezifische dieser Reich-Gottes-Botschaft aber ist: Sie schafft Hoffnung, aber keine Gewissheit. Mit anderen Worten: Man kann an sie nur glauben.

Musik:

Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Eugene Ormandy: „Gschichten aus dem Wienerwald op. 325, Walzer“ von Johann Strauß
Label: RCA GD 86799