Zwischenruf 18.10.2020, Jutta Henner

Das Netzwerk Bibel

Als Anfang August die dramatischen Bilder der gewaltigen Explosion in Beirut zu sehen waren, gingen meine Gedanken sofort zu den Menschen dort, die ich teilweise seit vielen Jahren kenne.

Erst im vorigen Herbst war ich in Beirut gewesen. Ich hatte das Bibelhaus, den Bibelshop im Stadtzentrum und Projekte besucht. Ich hatte Vertreter aller Kirchen getroffen. Intensiv, freudig und zuversichtlich war unser Austausch, auch wenn alle von der aufziehenden Krise des Landes sprachen. Wie hat die Katastrophe jetzt all diese Menschen getroffen?

Jutta Henner
ist Direktorin der Österreichischen Bibelgesellschaft

Der Blick geht in die Zukunft

Ein rascher Austausch von Kurznachrichten; alle sind wohlbehalten, aber in Sorge um die Verletzten, um Trauernde, um die, die ihr Zuhause verloren haben und um das Land. Ich erfahre in den Gesprächen mehr und anderes über die Situation im Land, als mir Medienberichte vermitteln können. 15 Jahre Bürgerkrieg haben die Menschen geprägt. Sie sind, so sagen sie es mir, gewohnt, Scherben und Schutt wegzuräumen und wieder neu anzufangen.

Der Blick geht deshalb in die Zukunft: Wie kann die Bibel gerade jetzt den christlichen Familien Ermutigung und Zuspruch bringen, damit Menschen nicht die Hoffnung verlieren und resignieren, damit sie im Land bleiben, einem Land, wo das Miteinander der Konfessionen und Religionen so gut funktioniert wie in keinem anderen Land des Nahen Ostens? Gerne habe ich auch seitens der Österreichischen Bibelgesellschaft finanzielle Unterstützung für die Projekte zugesagt. Durch meine persönlichen Begegnungen und Kontakte mit den Verantwortlichen im Libanon bin ich mir sicher, dass die Projekte gut durchgeführt werden.

Einladung zu Frieden und Versöhnung

Ende September flammt der bewaffnete Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien um die Region Bergkarabach wieder auf. Meine Gedanken gehen nach Armenien und zu den Menschen, die ich kenne. Erinnerungen an Projektbesuche, an freudige und begeisterte Arbeit unter oft bescheidenen Bedingungen, an herzliche Gastfreundschaft und an die leidvolle Geschichte des armenischen Volkes stellen sich bei mir ein. Bald sind wir in engem Austausch: Ich erfahre, dass viele Mütter mit ihren Kindern aus Grenzregionen geflohen sind – in die Hauptstadt Jerewan und andere Städte. Hunderte Menschen auf der Flucht würden von den Kirchen betreut. Viele Soldaten würden sich freiwillig melden, erfahre ich.

Zwischenruf
Sonntag, 18.10.2020, 6.55 Uhr, Ö1

Seit vielen Jahren bekommen die Soldaten Bibeln von der Bibelgesellschaft, die sie jetzt in den Kämpfen begleiten. Ich hoffe und wünsche, dass gerade die biblischen Worte, die zu Frieden und Versöhnung einladen, die dazu aufrufen, gerade auch die Feinde zu lieben, jetzt zu den Soldaten sprechen. Die Angst um Verwandte, vor allem aber um die Zukunft des Landes berührt mich. Der Genozid vor mehr als 100 Jahren hängt wie ein Schatten über allem. Welche Projekte sind in dieser Situation angemessen? Das überlegen wir gemeinsam.

In der Krise bewährt sich die Verbundenheit

Ich bin dankbar für diese weltweite Verbundenheit mit Kolleginnen und Kollegen im Netzwerk des Weltbundes der Bibelgesellschaften. Uns verbindet die Begeisterung für die Bibel und der Auftrag, die Bibel auf je eigene Weise zu den Menschen zu bringen. Mit nahezu jedem Land verbinde ich konkrete Menschen, Gesichter und Geschichten.

Die zu meinem Alltag gehörende internationale Zusammenarbeit lässt mich Nachrichten aus anderen Ländern ganz anders hören. Statt farbigen Flächen auf einer Landkarte, statt Zahlen und fremd klingenden Ortsnamen verbinde ich die Länder mit Menschen. Ich erinnere mich an für beide Seiten bereichernde Begegnungen. Die internationale Zusammenarbeit lässt Freundschaften wachsen und ein Netzwerk von vielfältiger Solidarität. Bereits der Apostel Paulus, der wie kein anderer in der frühen Christenheit in der antiken Welt reiste, wusste: „Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit…“ (1 Kor 12,26). In der Tat: In der Krise bewährt sich die Verbundenheit und zeigt sich, ob die Netzwerke wirklich tragfähig sind. Unter Christinnen und Christen – und auch darüber hinaus.