Lebenskunst 26.10.2020, Martin Jäggle

Bibelessay zu Matthäus 18,1-5

Wenn die gegenwärtigen Herausforderungen übermächtig werden, poppt manchmal bei Erwachsenen der Wunsch auf, noch einmal Kind sein zu können: noch einmal unbeschwert leben und versorgt werden. Zur romantischen Verklärung von Kind sein und Kindheit ist es da nicht weit.

Damit hat Jesus, so wie er hier bei Matthäus wiedergegeben wird, nichts am Hut, auch nicht mit einer Verkindlichung oder intellektuellen Verniedlichung christlichen Glaubens, wenn er verlangt, so zu werden wie die Kinder.

Martin Jäggle
ist katholischer Theologe und emeritierter Professor für Religionspädagogik

Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder

Vor 2000 Jahren, zur Zeit, in der Jesus aus Nazareth lebte, standen Kinder am unteren Ende der sozialen Hierarchie. Ihre Situation war prekär, sie wurden im familiären Notfall in die Sklaverei verpfändet oder verkauft. Kinder zählten zu den am wenigsten geschützten Mitgliedern der Gesellschaft. Ihr Status war so gering, dass mit „Kindern“ alle gesellschaftlich „Kleinen“ gemeint sein konnten, alle, die für die niedrigen Dienste da waren, die ausgegrenzt, deklassiert und ohne Einfluss waren. Dieser Hintergrund ist zu beachten, wenn zu hören war: „Ein Kind in die Mitte stellen.“

Lebenskunst
Montag, 26.10.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Natürlich wäre genau das, nämlich das Kind in die Mitte stellen, es ins Zentrum rücken, ein zeitgemäßes programmatisches Leitbild für Kindergarten und Schule, aber auch für Kirche und Politik. Die Jahre der Kindheit gelten zu Recht als die „verletzlichen Jahre“, worauf gerade die Pandemie wieder aufmerksam macht. Doch Jesu Anspruch geht weiter: Er stellt ein Kind in die Mitte und verlangt, „sich so klein zu machen wie ein Kind“ und „ein solches Kind“ aufzunehmen.

Mit dem Kind stellt Jesus die gesellschaftlich „Kleinen“ in die Mitte und verlangt, so klein und machtlos zu werden wie sie. So können sich seine Schülerinnen und Schüler mit den „Kleinen“ und ihrer Lebenssituation identifizieren, alle Machtansprüche, alles Leistungsdenken, allen Statusdünkel ablegen, die eigene Verletzbarkeit sowie Schwachheit annehmen, aber auch sich selbst so verletzbar machen, wie eben die „Kleinen“ verletzbar sind. Dann werden sie ihr Leben mit den „Kleinen“ teilen, diese „aufnehmen“ und ihnen Gastfreundschaft gewähren. Das alles wird nur möglich, wenn man „wie die Kinder“, wie „die Kleinen“ wird.