Lebenskunst 1.11.2020, Susanne Heine

Von Leidenschaft und Vertrauen

Gedanken einer evangelischen Christin zu Allerheiligen – Bibelessay zu Hebräerbrief 11, 1: Das ist die einzige Stelle in der Bibel, die zu definieren versucht, was Glauben heißt.

Ein recht komplizierter Satz, der aber etwas ganz Einfaches sagen will: Glaube bedeutet nicht, eine bestimmte religiöse Lehre für wahr halten, sondern hat mit einer Lebenseinstellung zu tun: Gib die Hoffnung nie auf und vertraue darauf, dass unsichtbare und dir wohlwollende Kräfte am Werk sind. Genauso haben die Heiligen geglaubt. Heute, wie jedes Jahr am 1. November, ist ihr großer Tag, der Tag der bekannten und unbekannten Märtyrer und Heiligen – eben aller – Heiligen, jedenfalls in der römisch-katholischen Kirche.

Susanne Heine
ist evangelische Theologin und Religionspsychologin

Heilige auf evangelisch

Mir ist nicht so recht klar, ob dieses Fest heute noch groß gefeiert wird, denn ich sehe die Menschen vor allem auf die Friedhöfe gehen, wo sie der Verstorbenen in der eigenen Familie gedenken. Das ist mir immer sehr naheliegend erschienen, denn als evangelische Christin konnte ich mit den Heiligen nie viel anfangen.

Dass die Evangelischen von den Heiligen gar nichts halten, stimmt aber auch wieder nicht. Das tun sie schon, allerding mehr – pädagogisch. Die Heiligen auf evangelisch sind Vorbilder im Glauben, für unbedingtes Gottvertrauen unter allen Bedingungen. Das bringt sie mir aber nicht näher. Denn wie könnte ich ihnen jemals das Wasser reichen? Die Heiligen opfern ihr Leben für Arme und Leidende auf oder ziehen sich in die Einsamkeit zurück, um Gott nahe zu sein. So wird es jedenfalls überliefert. Das alles bin ich nicht. Solche Vorbilder können auch erdrücken. Mit fällt das Wort „Vollkommenheitswahn“ ein. Muss ich mich schlecht fühlen, weil mein Leben ganz anders, viel gewöhnlicher, durchschnittlicher ausschaut?

Lebenskunst
Sonntag, 1.11.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Von guten Mächten

Noch kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren wurde ein Mann im KZ Flossenbürg hingerichtet, weil er aus Glaubensüberzeugung im Widerstand gegen das NS-Regime aktiv war: Dietrich Bonhoeffer. Er gilt als evangelischer Märtyrer und Heiliger, denn er war bis zu seinem Ende fest davon überzeugt, von unsichtbaren wohlwollenden Kräften getragen zu sein. „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag,“ so endet ein Gedicht, das Bonhoeffer in der Todeszelle verfasst hat. Heute wird es in der Kirche als Lied gesungen. Aber Achtung, sagt Bonhoeffer – solche Lieder singen darf nur, wer auch für die Juden schreit, nur, wer sich für Verfolgte einsetzt.

Bonhoeffer wird heute bewundert, gefeiert und auf die Fahnen des christlichen Widerstands geschrieben. Als Vorbild stellt Bonhoeffer aber auch eine ziemlich provokante Frage: Hätte ich in der damaligen Situation diesen Todesmut aufgebracht? Wäre mein Glaube dafür stark genug gewesen? Vermutlich wäre ich eher hoffnungslos in Angst und Schrecken verfallen.

Mit Vorbildern ist das so eine Sache

Sie lassen sich nicht verordnen. Niemand kann anderen, auch mir nicht, die Pistole auf die Brust setzen und sagen: Nimm dir ein Beispiel! Mach es wie die! Ich kann Vorbilder nur selbst entdecken. In dem Roman von Robert Musil „Der Mann ohne Eigenschaften“ bin ich vor Jahren auf eine erstaunliche Geschichte gestoßen, die mich bis heute beschäftigt:

Ein gewisser Paul Arnheim, erfolgreicher Geschäftsmann und nüchterner Rechner, sammelt – Heiligenfiguren. In einem Raum seines Wohnhauses stehen sie mit ihren verzückten Gebärden. Sie sterben in allen Lagen, und die Seele wringt ihre Körper wie ein Stück Wäsche, aus der man das Wasser presst. Oft setzt sich Arnheim allein in diesen Raum und dann wird ihm ganz anders zumute. Denn er beginnt das lei¬denschaftliche Feuer zu fühlen, das einstmals in diesen Menschen geglüht hat, beginnt, die Heiligen zu beneiden – um ihre Leidenschaft für eine unsichtbare Welt, um ihr Vertrauen, von guten Mächten getragen zu sein. Da bemerkt er, dass ihm etwas abgeht. Und so frage ich mich: Könnte Allerheiligen ein Anlass sein, sich selbst zu erforschen? Wofür schlägt mein Herz? Was geht mir ab? Gibt es bei mir eine Leidenschaft für etwas, das nicht von dieser Welt ist?

Inzwischen sind die alten Kelten wieder da mit ihrem Halloween und ihrem gruseligen Getue. Damit sollten früher die bösen Geister vertrieben werden, vertrieben aber wurden die Heiligen. Kann ich meinen Enkelkindern den großen Verkleidungsspaß verbieten, wo es doch um die Heiligen geht? Ich wäre eine schlimme Spielverderberin, aber ich könnte ihnen sagen: Die Kürbisköpfe sind hohl und vor allem stumm. Sie stellen keine provokanten Fragen – wie es die Heiligen tun.