Lebenskunst 22.11.2020, Hubert Gaisbauer

„Der gläubigste Ketzer“

Zum 100. Geburtstag von Paul Celan: Paul Pessach Antschel war der Sohn von Fritzi Antschel, geb. Schrager und des Leo Antschel, beide stammten aus streng jüdischen Familien. Die Mutter, aus dem legendenumwobenen Sadagora, war chassidisch orientiert, der Vater eher zionistisch.

Die Eltern heiraten Anfang 1920, am 23. November kommt Paul zur Welt. Sie bewohnen eine winzige Dreizimmer-Wohnung in der Wassilikogasse Nr. 5 in Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina, 800 Kilometer östlich von Wien; die Bukowina gehörte einst zur Donaumonarchie. Der Vater war Holzhändler, streng, schlug das Kind und sperrte es in den Keller. Paul ging nach seiner Bar-Mitzwa auf Distanz zur jüdischen Religionspraxis und auch zur hebräischen Sprache, zu allem, wofür der Vater stand. Die Mutter liebte die deutsche Literatur, dort fand auch Paul seine Zuflucht.

Hubert Gaisbauer
ist Kulturpublizist

„Zurück ins kalte Paris“

Im Spätherbst 1947 kommt er nach einem wochenlangen Fußmarsch aus Rumänien in Wien an und bleibt Winter und Frühling. Er ändert seinen Namen in Celan und geht nach Paris, wo er schließlich seinen Lebensplatz findet – aber keine Heimat. Er, der Vielsprachige, der Rumäne, der Poete Autrichien, also: der österreichische Dichter, wie auf dem Pariser Vorstadt-Friedhof sein Grab bezeichnet wird.

Paul Celan starb im April 1970, durch Freitod, in der Seine. Sein Verschwinden wurde erst entdeckt, als sich die Post unter seiner Tür gestapelt hatte. In der Wohnung fand man – ordentlich aufgereiht – Brieftasche, Ausweise, Geld und Uhr – daneben die aufgeschlagene Hölderlin-Biografie, in der Celan auf Seite 464 ein Zitat von Clemens Brentano unterstrichen hat, wo es heißt: „Manchmal wird dieser Genius dunkel und versinkt in den bitteren Brunnen seines Herzens.“

Ende März hatte ihn eine letzte Reise zu Lesungen nach Stuttgart und Freiburg im Breisgau geführt. Bei der Feier zu Hölderlins 200. Geburtstag las er aus dem eben fertiggestellten Lyrikband „Lichtzwang“. Angeblich schüttelten Zuhörer den Kopf und „sperrten sich gegen den Mann da oben und gegen sein Wort.“ Am Dienstag nach Ostern 1970 reiste Paul Celan zurück nach Paris, „ins kalte Paris“, wo er jetzt allein lebte, getrennt von seiner Familie, seiner Frau Gisele und seinem Sohn Eric.

„Immer wieder lesen!“

Beladen war er mit der „Schuld des Davongekommenen“, sagt man von ihm. Er hat „das was war“, wie er zu sagen pflegte und das Jüdische, dem dies geschah, ein schwieriges Leben lang in und mit sich getragen. Mit dem Schmerz über den Tod der deportierten Eltern ist das Jüdische in seine Dichtung eingezogen. Und zunehmend tiefste Verletzungen und Verstörungen, Ursachen einer schweren psychischen Erkrankung mit allen drastischen Folgen.

Lebenskunst
Sonntag, 22.11.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Celans Gedichte sind schwer verständlich. Gewiss. Bereits 1949 verrät ein Aphorismus sein Lebensgefühl: „Beuge dich vor der Übermacht, aber sprich als Gefangener eine unverständliche Sprache.“

Was tun, um Celan dennoch verstehen zu lernen? „Lesen“, empfahl er selber, sooft er danach gefragt wurde, „immer wieder lesen!“ Und dabei erkennen, wie sehr Celans Gedichte unserer Zeit angehören. Erkennen, dass das, was an ihnen tiefinnerst schmerzt, nur allzu rasch wieder „von morgen“ sein könnte. Celan lesen heißt, auf das reimlose Wort Mensch einen Reim suchen. Wie gesagt, er verwendete nie die Worte „Shoa“ oder „Holocaust“, er sprach immer nur „von dem, was war“. Und das Attribut „Dichter der Todesfuge“ konnte er nie abschütteln. Er forderte sogar, dieses „lesebuchreif-gedroschene“ Gedicht müsse aus dem „inflationären Vertrieb“ genommen werden. Dennoch bleibt die „Todesfuge“ sein bekanntestes Gedicht und die Widerlegung von Adornos Feststellung, „nach Auschwitz“ Gedichte zu schreiben wäre „barbarisch“.

„Wie heilige Texte…“

Paul Celan wurde eine „abgrundtiefe Gläubigkeit ohne Glauben“ zugesprochen, also religiöses Erleben und persönliche Antwort außerhalb verfasster Religion. Man nannte ihn auch den „gläubigsten Ketzer.“ Fast jede Zeile in seinen Gedichten redet zu einem Du, zu sich selber, zu einer Geliebten; oft verfließt dieses Du mit der Sehnsucht nach dem „ganz Anderen“, hinter dem Celan den Namen Gottes ahnen lässt. Theologia negativa sagt man dazu, wenn Celan in einem Gedicht die merkwürdigste Litanei anstimmt: „O einer, o keiner, o niemand, o du…“

Gern hat sich die christliche Theologie – wenn auch in bester Absicht – seiner bemächtigt. Einige der bekanntesten Gedichte wie „Psalm“, „Mandorla“ oder „Tenebrae“ werden allzu oft in die Nähe christlicher Mystik gerückt. Paul Celan ist und bleibt jüdisch. Die letzte Gedichtzeile, die er schrieb, lautet „am Sabbath“ –

„Wie heilige Texte werden Celans faszinierend dunkle Gesänge rezitiert und gedeutet,“ schreibt der Spiegel bereits vor 25 Jahren, und: „wie Reliquien werden in Marbach und in Paris die schriftlichen Zeugnisse des Schmerzensmannes gehütet.“

„ichten“

Immer wieder hat Paul Celan Martin Buber gelesen, einmal, in den Legenden des Baalschem Tov hat er folgende Zeilen doppelt und dreifach mit Bleistift markiert: „Das Wort ist ein Abgrund, durch den der Redende schreitet. Man soll die Worte sprechen, als seien die Himmel geöffnet in ihnen. Und als wäre es nicht so, dass du das Wort in deinen Mund nimmst, sondern als gingest du ein in das Wort.“

Am 12. April, eine Woche vor seinem Weggang, zitiert Paul Celan in einem Brief aus dem Tagebuch von Franz Kafka einen Satz, als gälte er auch für ihn: „Glück nur, falls ich die Welt ins Reine, Wahre, Unveränderliche heben kann.“

Jetzt doch ein Gedicht, es heißt „Einmal“. Ein helles Gedicht, wie ein Lichtstrahl unter so vielen dunklen. Darin kommt in der vorletzten Zeile das längst vergessene Wort „ichten“ vor. Es ist schwer zu deuten. Ich denke, man darf es lesen als Gegenwort zu dem vorangegangenen „vernichtet“. Als ein Wort des Wiederherstellens von Allem.

Einmal
da hörte ich ihn,
da wusch er die Welt,
ungesehn, nachtlang,
wirklich.
Eins und Unendlich,
vernichtet,
ichten.
Licht war. Rettung.