Zwischenruf 29.11.2020, Stefan Schröckenfuchs

Ein anderer Advent

Heute ist der erste Adventsonntag. Wie für andere auch ist für mich die Adventzeit mit besonderen Traditionen und Bräuchen verbunden. Das Haus wird mit Lichtern geschmückt. Ein Adventkranz zeigt den Verlauf der Zeit. Und besonders lieb ist mir das gemeinsame Singen von Adventliedern in der Kirche.

Dinge wie diese begleiten mich, bis es endlich Weihnachten wird. Am Heiligen Abend ist die Aufregung dann groß: Denn am Nachmittag gibt es einen Gottesdienst mit Krippenspiel, bei dem unsere Kirche in der Regel bis zum letzten Platz besetzt ist. Spätestens wenn am Schluss alle bei Kerzenlicht „Stille Nacht“ singen, löst sich die vorweihnachtliche Anspannung, und ein weihnachtlicher Friede erfüllt den Raum.

Stefan Schröckenfuchs
ist Superintendent der evangelisch-methodistischen Kirche in Österreich

Die Pandemie bestimmt alles

In diesem Jahr aber wird vieles anders sein. Aufs gemeinsame Singen in der Kirche muss ich derzeit verzichten. Auch die Proben fürs Krippenspiel finden nicht statt. Wer weiß, ob es überhaupt einen Weihnachtsgottesdienst geben wird? Eine voll besetzte Kirche ist jedenfalls unvorstellbar. Werde ich als Pfarrer am Heiligen Abend wie der Herbergswirt zu jemandem sagen müssen: „Für euch gibt es heute keinen Platz“?

Ich spüre, wie mich bei diesen Gedanken ein Gefühl der Ohnmacht überkommt: Die Pandemie bestimmt alles, und es bleibt nur wenig Spielraum zur Gestaltung. Gleichzeitig fordert mich die neue Situation aber auch heraus, neu zu fragen: Worum geht es zu Weihnachten überhaupt?

Die Weihnachtsgeschichte

Der Evangelist Lukas beginnt seine „Weihnachtsgeschichte“ mit den vertrauten Worten: „Es begab sich aber, dass in jenen Tagen ein Erlass des Kaisers Augustus erging, den ganzen Erdkreis registrieren zu lassen…“ Nun, was man sich unter einer „weltweiten Volkszählung“ vorzustellen hat, beschreibt beispielsweise Firmianus Lactantius in der Schrift „De mortibus persecutorum“ wie folgt:

Zwischenruf
Sonntag, 29.11.2020, 6.55 Uhr, Ö1

„Die römischen Steuerbeamten erschienen allerorts und brachten alles in Aufruhr. Die Äcker wurden Scholle für Scholle vermessen, jeder Weinstock und Obstbaum gezählt, jedes Stück Vieh wurde registriert und die Kopfzahl der Menschen genau notiert. … überall hörte man das Schreien derer, die mit Folter und Stockschlägen verhört wurden. … Wenn alles durchprobiert war, folterte man die Steuerpflichtigen, bis sie gegen sich selbst aussagten, und wenn der Schmerz gesiegt hatte, schrieb man steuerpflichtigen Besitz auf, der gar nicht existierte.“

So wird man sich die Situation vorstellen müssen, in der die von Lukas überlieferte Weihnachtsgeschichte angesiedelt ist. Sie fällt in eine Zeit, in der die jüdische Bevölkerung wie ohnmächtig der Pandemie römischer Herrschsucht ausgeliefert war. Die Not war so groß, dass Schwangere wie Maria ihre Kinder im Stall zur Welt bringen mussten. Und als Liegestatt fürs Christkind blieb nur der Futtertrog.

Die Machtlosen kommen zu Ehren

Doch Gott, so erzählt Lukas, hat es gefallen, sich gerade bei den Machtlosen und Entrechteten anzusiedeln. Als bedürftiges Kind gibt er sich in die Hände von Menschen wie Maria, die nichts zu geben hat, außer ihrer Fürsorge und Liebe. So lässt Gott die Machtlosen zu Ehren kommen, sodass sie staunen können wie Maria im Magnificat:

„Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen… Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.“

Neue Erfahrungen

Der „allmächtige“ Gott, so verstehe ich diese Geschichte, hat die Welt geradezu auf den Kopf gestellt, in dem er das Schicksal der Machtlosen teilt. Mir scheint, als könnte mich diese Botschaft in diesem Jahr ganz neu berühren – jetzt, da ich mich selbst wie „ohnmächtig“ den Umständen ausgeliefert fühle.

In diesem Sinne möchte ich offen bleiben für diese „andere“ Adventzeit – und sehen, ob sie mich nicht noch weiter überrascht. Das Fehlen von vertrauten Bräuchen ist zwar schmerzlich. Vielleicht schafft es aber auch den nötigen Raum, um Gott wieder neu zu erfahren.