Lebenskunst 8.12.2020, Mirja Kutzer

Bibelessay zu Lukas 1,26–38

In der Malerei des 15. Jahrhunderts in Florenz wurde die Verkündigung des Engels an Maria vielfältig ins Bild gesetzt – von Fra Angelico, Sandro Boticelli, Leonardo da Vinci, um nur die bekanntesten zu nennen.

Seit Jahren bin ich jedes Mal aufs Neue überrascht, wie anders diese Bilder sind als das innere Bild, das ich von der Szene in meinem Kopf habe. Zugegeben – dieses innere Bild – also das, das als erstes auftaucht, noch bevor ich mich zur Reflexion mahne – ist sehr einfach gestrickt. Eine blonde, sehr helle Maria kniet mit gesenktem Kopf und ebensolchen Augen vor einem Engel. Und vor meinem inneren Ohr höre ich dann diese sehr helle, blonde Frau das lateinische „Fiat!“ aussprechen. Auf Deutsch: „Es geschehe!“, bekannt in der Übersetzung: „Mir geschehe, wie du es gesagt hast.“

Mirja Kutzer
ist Professorin für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie der Universität Kassel

Zwischen Hingabe und Selbstbehauptung

Dieses mein inneres Bild kommt freilich nicht von ungefähr. Die christliche Frömmigkeitsgeschichte hat die biblische Erzählung stillgestellt auf das „Fiat!“ und dies als eine Haltung der Demut und des Gehorsams interpretiert. Es ist diese Haltung, in der Maria zum Ideal christlicher Frömmigkeit, insbesondere von Frauen geworden ist. Von ihnen hat man ebenfalls eine Haltung der Demut und des Gehorsams verlangt – gegenüber Gott, aber auch gegenüber denjenigen, die für sich in Anspruch genommen haben, göttliche Autorität auf Erden zu repräsentieren – kirchliche Amtsträger, spirituelle Begleiter, christliche Erzieherinnen und Erzieher. Das ikonische „Fiat“ der Maria hat so diese Geschichte des sexuellen Missbrauchs begünstigt, deren Ausmaß wir erst langsam erahnen.

Lebenskunst
Dienstag, 8.12.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Dabei hat diese Konzentration auf das „Fiat!“ verdeckt, wie aktiv die Rolle Marias im Lukasevangelium – übrigens dem einzigen der vier neutestamentlichen Evangelien, das diese Geschichte schildert – eigentlich ist. Als hätte sie nicht erst einmal zurückgefragt: „Wie soll das geschehen?“ Und als wäre sie nicht zu ihrer Verwandten Elisabeth aufgebrochen und hätte dort das Magnifikat gesungen – diesen wunderbaren Text, der der Armenfrömmigkeit des alten Israel entstammt. Darin preist sie den Gott der Bibel, weil er sie erhöht hat – sie, die „Magd des Herrn“, und im Text steht eigentlich „Sklavin des Herrn“. Als solche ist Maria nicht einfach fromm und demütig. Sie ist eine von Menschen unterdrückte Frau, die darauf vertraut, dass Gott diese Unterdrückung nicht andauern lässt.

Mit der Verkündigungserzählung im Kopf zerbröselt auch mein inneres Bild von der blonden Maria, die das „Fiat“ spricht. Es wird dynamischer, vielfältiger, widersprüchlicher. Vielleicht wie in Boticellis Darstellung „Annunciazione in Cestello“, die der Frankfurter Theologe Knut Wenzel in seinem neuen Buch bespricht. Die Figur der Maria verharrt am Schreibtisch und nur der Oberkörper wendet sich dem Engel zu. Die Neigung des Kopfes signalisiert Zuwendung, die Handhaltung eher Abwehr. Eigentümlich auch, dass der Engel vor Maria kniet – und sie auf ihn hinabsieht. Es ist eine Dynamik aus Zuwendung und Abwehr, Hingabe und Selbstbehauptung, die Boticelli ins Bild setzt. Die Maler – sie hatten das „Fiat!“ schon längst aus seiner Versteinerung befreit.