Donnerstag, 7.1.2021, Wolfgang Palaver

Einheit in Vielheit

Wie kann ein Zusammenleben mit anderen – Andersdenkenden, auch Andersgläubigen – gelingen? Mit Hilfe eines Symbols aus der Geometrie, meint Wolfgang Palaver.

„Fratelli tutti. Über die Geschwisterlichkeit und die Soziale Freundschaft“ ist der Titel der jüngsten Sozialenzyklika von Papst Franziskus, in der er zur weltweiten Geschwisterlichkeit aufruft. Damit vertritt er aber keine Welteinheitsfantasie, die alle Unterschiede in Richtung einer McWorld auflösen will. Ausdrücklich weist er deshalb ein Modell von Welt zurück, das wie eine Kugel alle Unterschiede und Unebenheiten ausradieren will. Anstelle der Kugel wirbt er für den Polyeder, einen Vielflächner, der unterschiedlichste Flächen miteinander vereint. Einheit in Vielheit entspricht diesem geometrischen Modell. Im Polyeder erkennt Papst Franziskus seine Vorstellung von globaler Geschwisterlichkeit.

Wolfgang Palaver
ist Präsident von Pax Christi Österreich und Sozialethiker an der Universität Innsbruck

Niemand ist entbehrlich

Dieses Modell ist auch für das lokale Zusammenleben bei uns in Österreich bedeutsam. Es gibt eine Vorstellung von Integration, die sich diese nur wie das Kugelmodell vorstellen kann: Alle sollen sich einem einzigen kulturellen Ganzen eingliedern, das die Unterschiede möglichst bald zum Verschwinden bringt. Der Polyeder steht dagegen für ein Miteinander verschiedenster kultureller und religiöser Herkünfte.

Papst Franziskus beschreibt diese Verbindung von Einheit und Vielheit so: „Der Polyeder stellt eine Gesellschaft dar, in der die Unterschiede zusammenleben, sich dabei gegenseitig ergänzen, bereichern und erhellen, wenn auch unter Diskussionen und mit Argwohn. Denn man kann von jedem etwas lernen, niemand ist nutzlos, niemand ist entbehrlich.“ (Fratelli tutti Nr. 215)