Lebenskunst 26.12.2020, Helga Kohler-Spiegel

Bibelessay zu Apostelgeschichte 6,8-10;7,54-60

Weihnachten ist noch nicht vorbei, und schon ist wieder vom Alltag die Rede, von Gewalt und Mord und Totschlag. Die Apostelgeschichte, ein Buch im Neuen Testament der Bibel, ist als Band 2 zum Lukasevangelium zu verstehen, und erzählt, wie sich die Botschaft des Jesus aus Nazareth bis an die Grenzen der Welt weiterverbreitet.

Ausführlich wird erzählt, wie engagiert und klug Stephanus, ein Diakon in der Jerusalemer Urgemeinde, die Botschaft Jesu weiterverkündet. Es wird erzählt, wie seine Gegner sich nur mit Verleumdungen und Falschaussagen gegen Stephanus zu helfen wissen, wie er vom Hohen Rat verhört wird und wie er in einer sehr umfangreichen Rede entlang der Bibel aufzeigt, dass der Gott, von dem er erfahren hat und an den er glaubt, – dass dieser Gott die Wege der Menschen leitet und dass dies hier und heute bedeutet, den Geist Gottes in der Verkündigung der Botschaft Jesus zu sehen.

Helga Kohler-Spiegel
ist Theologin, Pädagogin, Psychoanalytikerin aus Feldkirch in Vorarlberg

Der Mensch kann Gott sehen

Die Menschen damals verstehen die Sprengkraft der neuen Botschaft Jesu, es kommt zur Eskalation und zur Steinigung von Stephanus. Vor seinem Sterben sieht Stephanus den Himmel offen, er sieht „die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes“, so wird es in diesem Text geschildert. Das ist ein Affront, unverzeihlich. Von Beginn an ist in der biblischen Überlieferung klar, dass der Mensch Gott nicht sehen kann. Menschen können die Stimme Gottes hören, sie können Gott spüren, aber Gott selbst kann der Mensch nicht sehen.

In der Begegnung mit Jesus kam diese unfassbare Veränderung: Der Mensch kann Gott sehen. In der Begegnung mit Jesus ist seinen Anhängern klar geworden, so wie Jesus lebt und handelt und denkt und redet, verweist er nicht nur auf Gott, sondern in ihm wird direkt sichtbar, was Menschen von Gott glauben. So sagten die Menschen dann auch: Jesus ist „Gott gleich“, Jesus ist „wie Gott“, in seinem Leben und Handeln zeigt sich ganz, wie Gott selbst ist: Gott ist Leben, Gott ist Liebe.

Den Himmel offen sehen

Erschütternd ist und bleibt, dass später dann genau diejenigen, die diese frohmachende Botschaft vom Leben weitergeben, dabei selbst so viel Gewalt ausgeübt und Leben zerstört haben. Zugleich gibt es durch alle Jahrhunderte hindurch bis heute die Menschen, die dieser Botschaft folgen und sie weitergeben: Der Himmel ist offen. Jeder Mensch kann Jesus und seinem Tun begegnen – und so Gott selbst sehen. Jeder Mensch, egal welches Geschlecht oder welchen sozioökonomischen Status oder welche Herkunft jemand hat, jeder Mensch kann diese Botschaft leben und weitertragen, dass das Leben und die Liebe stärker sind als der Tod und die Gewalt.

Lebenskunst
Samstag, 26.12.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Und dann kann ich erzählen von Menschen, die diese Botschaft vom Leben bis heute leben: Menschen, die sich für den Schutz der Natur und die Rechte der indigenen Bevölkerung einsetzen – und dafür ermordet werden. Menschen, die sich für die Menschenrechte, für die Rechte von Frauen oder für Demokratie und freie Meinungsäußerung einsetzen – und dafür gefoltert werden. Menschen, die am Arbeitsplatz oder in der Schulklasse Position beziehen für eine Kollegin oder einen Kollegen, der ausgegrenzt wird – und in Folge davon selbst ausgegrenzt werden…

Diese Erfahrungen gibt es bis heute. Die ersten Christinnen und Christen haben sich nicht erschrecken lassen und haben nicht aufgegeben, diese Botschaft vom offenen Himmel und von einem Gott, der „Leben in Fülle für alle“ will, weiterzuleben und weiterzuverbreiten.