Lebenskunst 3.1.2021, Michael Chalupka

Bibelessay zu Lukas 2, 41-52

Wo ist das Kind? Das ist die eine Frage. Wer hätte das nicht schon erlebt. Das Kind ist weg, da wird es einem eng um die Brust und kalt und warm zugleich. Panik pur. Alle werden gefragt, nichts bleibt unversucht.

Schließlich rennt man zurück an den Ort, an dem man es zuletzt gesehen hat. Und da sitzt das Kind Jesus ganz ruhig mitten unter den Lehrern der Weisheit, im vertrauten Ort, von dem man zuvor aufgebrochen ist.

Michael Chalupka
ist Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Österreich

Wo Gott wohnt

Wo ist der Vater? Wo ist Gott? Das ist die andere Frage. Jesu Antwort ist für seine leiblichen Eltern schwer verständlich: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ Er ist zu Hause im Tempel, wo Gott sein Vater ist! Ein Kind, das bei seinem Vater ist, ist nicht verloren.

Der Evangelist Lukas sagt damit: Man findet Gott erst, wenn man meint, ihn verloren zu haben. Die Nähe Gottes erreicht niemand ohne diese Angst. Aber dann sagt er beruhigend: Suche ihn dort, wo er der Tradition nach zu finden ist, im Tempel, bei den Lehrern Israels. Suche ihn dort – und nicht nur in der Natur, der Meditation, in der liturgischen Feier oder in dir selbst.

Lassen wir das Legendarische weg. Die Geschichte von Jesus als Wunderkind. Bleiben wir beim Kern der Geschichte. Wer Gott gefunden hat, ist zu Hause und lebt in der Geborgenheit. Der Weg dahin geht nicht ohne Aufregung.

Lebenskunst
Sonntag, 3.1.2021, 7.05 Uhr, Ö1

„Wer seinen Gott verloren hat…“

Die Lehrer der Weisheit und der Knabe Jesus tauschen sich aus über die Weisheit der Heiligen Schrift. Der Dichter Heinrich Heine haderte oft mit Gott und der Religion, aber am Ende kehrte er zu seinem jüdischen Glauben zurück. Er schreibt, er verdanke diese Rückkehr einem Buch: „Dieses Buch heißt auch ganz kurzweg das Buch, die Bibel. Mit Fug nennt man diese auch die Heilige Schrift; wer seinen Gott verloren hat, der kann ihn in diesem Buche wiederfinden, und wer ihn nie gekannt, dem weht hier entgegen der Odem des göttlichen Wortes.“ Gottes Gegenwart kann man mit Hilfe von Jahrtausenden religiöser Erfahrung, wie sie in diesem einen Buch dokumentiert ist, wiederfinden.

Das wusste auch der Reformator Martin Luther. Heute vor 500 Jahren wurde der Kirchenbann über ihn verhängt, das war zugleich das weltliche Todesurteil. Er galt als vogelfrei und durfte von jedermann getötet werden. Auch wenn die Bannbulle für ihn keine geistliche Bedeutung mehr hatte, so versetzte das Urteil ihn sicher in Angst und Schrecken. Er floh auf die Wartburg und übersetzte die Bibel. Er vertiefte sich in ihre Weisheit. Er war zu Hause. Im Haus seines Vater.