„Es ist ein riesiger Abgrund, tiefer als die tiefsten Krater der Erde, oder es ist die dünnste Luft weit jenseits des Mondes. Aber es ist erschreckend, und es ist grundlegend anders als das, was dem Menschen von sich vertraut ist, also verbringen wir unsere Tage damit, am entgegengesetzten Ende unseres Selbst zu leben.“
Alles Gute und alles Böse
Das Schreckliche in jedem: Das thematisieren die Romane und Erzählungen von Patricia Highsmith. In ihrem Debütroman „Zwei Fremde im Zug“ treffen zwei Figuren aufeinander. Anfangs hält man den einen für einen bösen Verführer, den anderen für einen unschuldigen Kultivierten. Doch im Verlauf der Geschichte wird immer deutlicher, wie sehr beide Figuren miteinander verbunden sind. Im ständigen Streit, aber auch in Zuneigung, als wären sie zwei Brüder. Oder als wären die zwei gar eine Figur, deren unterschiedliche Facetten man so zu sehen bekommt.
Brigitte Schwens-Harrant
ist Literaturkritikerin, Buchautorin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung „Die Furche“
In ihren berühmten und mehrfach verfilmten Romanen über den talentierten Mr. Ripley hat Highsmith diesen Dualismus in eine einzige Figur gepackt. Ripley ist beides in einem: kaltblütiger Mörder und kunstsinniger Mensch. Das eine schließt das andere nicht aus. Das ist die unheimliche Botschaft von Patricia Highsmith, in ihren abgründigen Romanen und Erzählungen.
„Liebe und Haß, Gut und Böse (liegen) im Herzen des Menschen eng beieinander“, heißt es im 1950 erschienenen Roman „Zwei Fremde im Zug“, „nicht etwa in verschieden starker Ausprägung je nach Charakter, sondern alles Gute und alles Böse war bei jedem vorhanden. Man mußte nur nach einem Zipfel davon Ausschau halten, um alles zu finden; es genügte, daß man ein wenig an der Oberfläche kratzte.“
Buchhinweise:
- Patricia Highsmith, „Zwei Fremde im Zug“, Verlag Diogenes
- Patricia Highsmith, „Der talentierte Mr. Ripley“, Verlag Diogenes
- Andrew Wilson, „Schöner Schatten. Das Leben von Patricia Highsmith“, Berlin Verlag
Musik:
Billie Holiday und Teddy Wilson Orchestra: „Easy living“ aus: CAROL / Original Filmmusik von Leo Robin und Ralph Rainger
Label: Varese Sarabande 302067380B / Universal