Samstag, 23.1.2021, Brigitte Schwens-Harrant

Das verworfene Ich

Zum 100. Geburtstag von Patricia Highsmith. Romane und Erzählungen von Patricia Highsmith seien keine Bettlektüre, heißt es oft. Zu aufregend, zu erschütternd sei, was die amerikanische Autorin unaufgeregt, manchmal geradezu nüchtern, meist jedenfalls formvollendet erzählt.

Doch was erzählt sie da? Die Abgründe des Menschen. Und wo findet sich das noch? In der Bibel. Kain erschlägt Abel. Er beseitigt den eigenen Bruder, der stört. Er flüchtet, im Gepäck die Schuld, und gründet eine Stadt. Vor der Stadtgründung war also der Brudermord. Und das eine ist vom anderen nicht zu trennen. Je länger man über diese biblische Geschichte nachdenkt, umso verstörender wird sie.

Brigitte Schwens-Harrant
ist Literaturkritikerin, Buchautorin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung „Die Furche“

Kain und Abel

Patricia Highsmith kannte die Bibel gut. Zahlreiche Spuren finden sich davon in ihren Werken, wohl auch diese Brudermord-Geschichte. Man schaut mit ihren Figuren in den Spiegel und erkennt dort „für einen Augenblick den Mörder wie einen verborgenen Bruder“. Highsmith erzählt die Dualität des Menschen oft in der Verkörperung zweier Figuren, aber sie zeigt damit die Dualität, die jeder Mensch in sich trägt. Jeder ist Kain und Abel zugleich. „Er kam sich fast vor wie zwei Personen“, heißt es in ihrem Roman „Zwei Fremde im Zug“, „eine, die schöpferisch tätig war und sich dabei in harmonischer Übereinstimmung mit Gott wußte, und eine, die Morde begehen konnte.“

Diese erschreckende Einsicht möchte man instinktiv abwehren, wie es auch manche ihrer Figuren tun. Einfacher ist es doch, den Feind außen zu erkennen und zu benennen, die Schuld bei anderen zu suchen, sich selbst aber gottesfürchtig und wertorientiert zu wähnen. Ehrlicher aber sind wohl die Einsichten, zu denen Patricia Highsmith mit ihrer Literatur begleitet.

Wie heißt es im Roman „Zwei Fremde im Zug“? „Jeder war das, wogegen der andere sich entschieden hatte, das verworfene Ich, das jeder von ihnen zu hassen vermeinte und in Wahrheit möglicherweise liebte.“

Buchhinweise:

  • Patricia Highsmith, „Zwei Fremde im Zug“, Verlag Diogenes
  • Andrew Wilson, „Schöner Schatten. Das Leben von Patricia Highsmith“, Berlin Verlag

Musik:

Sinead O’Connor und Filmorchester unter der Leitung von Harry Rabinowitz: „Lullaby for Cain“ aus: DER TALENTIERTE MR.RIPLEY / Original Filmmusik von Gabriel Yared und Anthony Minghella
Label: Sony Classical SK 51337