Montag, 25.1.2021, Cornelius Hell

Zärtlichkeit und Schmerz

Zum 100. Geburtstag von Kurt Marti. Diese Zeilen des Schweizer Lyrikers Kurt Marti habe ich auf den Partezettel schreiben lassen, als meine Mutter mit über 97 Jahren verstorben ist.

preise der greisinnen herzlichen mut
die kühnen revolten göttlicher hoffnung

Sie hat viel Mut gebraucht und gehabt in ihrem Leben, und so war ich froh, am Ende von Martis Gedichtband „abendland“ das Gedicht „preisungen“ mit diesen zwei Zeilen zu finden.

Erdwärts wachsen

Einen Monat nach Mutters Begräbnis, am 4. Jänner 2011, konnte ich Kurt Marti in Bern besuchen – für eine ORF-Sendung zu seinem 90. Geburtstag. Das Datum weiß ich noch genau, denn er hat es mir unter die Widmung in sein damals neues Buch „Heilige Vergänglichkeit“ geschrieben. Was das Größte und Schönste in seinem Leben sei, habe ich Kurt Marti gefragt, und die Antwort kam ohne Nachdenken: „Dass ich meine Frau kennengelernt habe.“ Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Umso schwerer ist es jetzt.“

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

57 Jahre war er mit Hanni Marti-Morgenthaler verheiratet, die beiden haben vier Kinder großgezogen. Wie sehr Kurt Marti um seine Frau getrauert hat, spürt man aus den nachgelassenen Gedichten, die jetzt zu seinem 100. Geburtstag unter dem Titel „Hannis Äpfel“ erscheinen. Manche mögen denken, als Pfarrer der evangelisch-reformierten Kirche hätte Kurt Marti Trost in der Religion finden können. Doch in seinem Buch „Heilige Vergänglichkeit“ steht der messerscharfe Satz: „Gott ist nie Ersatz, erst recht nicht für die lebenslang Geliebte.“

Eine herkömmliche christliche Selbstverständlichkeit hat Kurt Marti nicht geteilt: Die Vorstellung vom „ewigen Leben“, von einem Weiterleben nach dem Tod. Ein Glaube, der auf das ewige Leben fokussiert ist, schien ihm heillos egozentriert. Und doch findet sich in Kurt Martis Gedichtband „gott gerneklein“ das folgende Gedicht, dessen paradoxer Schluss mir nicht aus dem Kopf geht:

dahingehen
alt sein
kleiner werden
erdwärts wachsen
dahingehen
unter die erde kommen
ruhe finden
bei wurzeln sein
kein ohr mehr haben
die stimme hören

Musik:

Dave Brubeck Quartet: „Maria“ aus dem Musical „West Side Story“ von Leonard Bernstein
Label: CBS 4504102

Literaturhinweise:

  • Leichenreden. Deutscher Taschenbuch Verlag 2004 (Erstausgabe 1969)
  • Abendland. Gedichte. Luchterhand Verlag 1984
  • Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze. Radius Verlag 2010
  • Gedichte am Rand. Niggli, Teufen (Erstausgabe 1963) 1974,
  • Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen. Luchterhand Verlag 1979
  • Gott Gerneklein: Gedichte. Radius, Stuttgart 2006
  • Republikanische Gedichte. Luchterhand Verlag 1971
  • Rosa Loui. Vierzg Gedicht ir Bärner Umgangsschprach. Luchterhand Verlag 1967
  • Bärndütschi Liebesgedicht. Benteli Verlag 1979
  • Högerland. Ein Fußgängerbuch. Luchterhand Verlag 1990
  • Gedichte, Alfabeete & Cymbalklang. Wolfgang Fietkau Verlag 1966
  • Hannis Äpfel. Gedichte aus dem Nachlass. Wallstein Verlag 2021
  • Notizen und Details 1964–2007. Wallstein Verlag 2021
  • Der Alphornpalast. Prosa aus dem Nachlass. Wallstein Verlag 2021
  • Mein barfüßig Lob. Gedichte. Luchterhand Verlag 1998
  • Die Psalmen. Annäherungen. Radius Verlag 2004
  • Fromme Geschichten. Radius Verlag 2004
  • Gott im Diesseits. Versuche zu verstehen. Radius Verlag 2005
  • Gottesbefragungen. Ausgewählte Predigten. Hg. v. Andreas Mauz u. Ralph Kunz. TVZ 2020
  • Von der Weltleidenschaft Gottes: Denkskizzen. Radius Verlag 2011
  • Ein Topf voll Zeit 1928–1948. Nagel & Kimche Verlag 2008
  • Wen meinte der Mann? Gedichte und Prosatexte. Reclam Verlag 1990
  • Klaus Bäumlin (Hrsg.): Kurt Marti: Sprachkünstler, Pfarrer, Freund. TVZ, Zürich 2020
  • Pierre Bühler; Andreas Mauz (Hrsg.): Grenzverkehr. Beiträge zum Werk Kurt Martis. Wallstein Verlag 2016
  • Christof Mauch: Kurt Marti. Texte – Daten – Bilder. Luchterhand Verlag 1991
  • Christof Mauch: Poesie – Theologie – Politik. Studien zu Kurt Marti. Niemeyer Verlag 1992 (=Studien zur deutschen Literatur 118)
  • Ernst Rudolf Rinke: Der Weg kommt, indem wir gehen. Theologie und Poesie der Zärtlichkeit bei Kurt Marti. Radius Verlag 1990