Freitag, 29.1.2021, Cornelius Hell

Das Ungeheuer Zärtlichkeit

Zum 100. Geburtstag von Kurt Marti. Und tiefblau der Himmel, nahegerückt die helle Alpenkulisse hinter Wäldern und Hügeln. Auf dem Aussichtsmäuerchen sitzt ein Mädchen, neben ihr ein junger Blondschopf, fünfzehn-, sechzehnjährig vielleicht, beide in Jeans.

Die Schulmappen haben sie beiseitegelegt, um sich umfassen, streicheln zu können, um zu murmeln, zu lachen, mit den Lippen die Landschaft ihrer Gesichter zu entdecken, die Schulaufgaben in ihren Mappen müssen fürs erste noch warten, haben Zeit, Aufgaben gibt’s, die wichtiger sind: Einen anderen Menschen kennenzulernen zum Beispiel, ihn zu entdecken, von ihm entdeckt zu werden (was ist die Entdeckung Amerikas dagegen?), Gefühle in Worte zu fassen, mit Worten, Andeutungen zu spielen wie mit Fingern, mit Haaren (lernt man das im Deutschunterricht?), einander zuzulächeln, Wünsche zu erraten, Pläne zu schmieden, Wahn zu dämpfen, die Freuden der Realität zu genießen (Autodidakten aller Länder, vereinigt euch!). Wer weiß, ob die beiden noch einmal so intensiv werden erleben und fühlen können wie jetzt, wie hier, in der spontanen Unbedingtheit ihres Glücks aneinander, an dem ich vorüberflaniere, erfreut, ermuntert, auf nicht definierbare Weise. Das Ungeheuer Zärtlichkeit.

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

Zärtlichkeit und Schmerz

Dieser kleine Prosatext von Kurt Marti ist ein kostbarer Fund aus einer Anthologie, mit dem ich vor kurzem überrascht wurde. Er ist weit mehr als eine Beschreibung von zwei Jugendlichen, die einander entdecken und zärtlich näherkommen. Er nimmt sie und ihre Entdeckung wichtiger als alles, was sonst noch in den Blick gerät. Und zeigt, dass die Zärtlichkeit eine Kraft entfacht, die alles andere in den Schatten stellt: Das Ungeheuer Zärtlichkeit.

Zärtlichkeit ist ein Thema, das das ganze Werk von Kurt Marti durchzieht. „Zärtlichkeit und Schmerz“ heißt ein wichtiger Band seiner Notizen, und mittlerweile gibt es sogar ein Buch zum Thema „Theologie und Poesie der Zärtlichkeit bei Kurt Marti“. Auch seinen Blick auf Menschen und Landschaften könnte man zärtlich nennen – etwa in dem „Fußgängerbuch“ (so der Untertitel) „Högerland“. Durch sein Renommee als bekanntester Schweizer Lyriker wurde der präzise Blick der Prosatexte von Kurt Marti oft zu wenig wahrgenommen.

Musik:

Dave Brubeck Quartet: „Somewhere“ aus dem Musical „West Side Story“ von Leonard Bernstein
Label: CBS 4504102

Literaturhinweise:

  • Leichenreden. Deutscher Taschenbuch Verlag 2004 (Erstausgabe 1969)
  • Abendland. Gedichte. Luchterhand Verlag 1984
  • Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze. Radius Verlag 2010
  • Gedichte am Rand. Niggli, Teufen (Erstausgabe 1963) 1974,
  • Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen. Luchterhand Verlag 1979
  • Gott Gerneklein: Gedichte. Radius, Stuttgart 2006
  • Republikanische Gedichte. Luchterhand Verlag 1971
  • Rosa Loui. Vierzg Gedicht ir Bärner Umgangsschprach. Luchterhand Verlag 1967
  • Bärndütschi Liebesgedicht. Benteli Verlag 1979
  • Högerland. Ein Fußgängerbuch. Luchterhand Verlag 1990
  • Gedichte, Alfabeete & Cymbalklang. Wolfgang Fietkau Verlag 1966
  • Hannis Äpfel. Gedichte aus dem Nachlass. Wallstein Verlag 2021
  • Notizen und Details 1964–2007. Wallstein Verlag 2021
  • Der Alphornpalast. Prosa aus dem Nachlass. Wallstein Verlag 2021
  • Mein barfüßig Lob. Gedichte. Luchterhand Verlag 1998
  • Die Psalmen. Annäherungen. Radius Verlag 2004
  • Fromme Geschichten. Radius Verlag 2004
  • Gott im Diesseits. Versuche zu verstehen. Radius Verlag 2005
  • Gottesbefragungen. Ausgewählte Predigten. Hg. v. Andreas Mauz u. Ralph Kunz. TVZ 2020
  • Von der Weltleidenschaft Gottes: Denkskizzen. Radius Verlag 2011
  • Ein Topf voll Zeit 1928–1948. Nagel & Kimche Verlag 2008
  • Wen meinte der Mann? Gedichte und Prosatexte. Reclam Verlag 1990
  • Klaus Bäumlin (Hrsg.): Kurt Marti: Sprachkünstler, Pfarrer, Freund. TVZ, Zürich 2020
  • Pierre Bühler; Andreas Mauz (Hrsg.): Grenzverkehr. Beiträge zum Werk Kurt Martis. Wallstein Verlag 2016
  • Christof Mauch: Kurt Marti. Texte – Daten – Bilder. Luchterhand Verlag 1991
  • Christof Mauch: Poesie – Theologie – Politik. Studien zu Kurt Marti. Niemeyer Verlag 1992 (=Studien zur deutschen Literatur 118)
  • Ernst Rudolf Rinke: Der Weg kommt, indem wir gehen. Theologie und Poesie der Zärtlichkeit bei Kurt Marti. Radius Verlag 1990