Samstag, 30.1.2021, Cornelius Hell

Ich kann nicht mehr pfeifen

Als ich diesen Satz im Buch „Heilige Vergänglichkeit“ des damals neunzigjährigen Schweizer Poeten und Theologen Kurt Marti las, dachte ich, er beschreibe die Folge einer Zahnbehandlung.

Schlimme Entdeckung:
Ich kann nicht mehr pfeifen.

„Nein“, entgegnete er mir in unserem Gespräch am 4. Jänner 2011 – „viele alte Männer können nicht mehr pfeifen.“ Während wir zum Abschluss meines Besuches noch einen Espresso tranken, konnten wir aber keinen Grund dafür finden.

Heilige Vergänglichkeit

Es gibt also Fristen im Leben, von denen man gar nichts weiß, dachte ich, als ich dann noch für ein paar Stunden allein durch das abenddunkle Bern ging, wo Kurt Marti von 1961 bis 1983 Pfarrer an der evangelisch-reformierten Nydeggkirche war. Bald musste ich wieder zurück in das österreichisch-katholische Barock, aber diesen Abend genoss ich noch den Atem der Reformation und den Schweizer Bürgersinn, der mir in Bern architektonisch verkörpert schien; und sah beides als Hintergrund, aus dem die nüchterne Klarheit im Gespräch mit Kurt Marti kam.

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

Inzwischen sind zehn Jahre vergangen, und Kurt Marti ist am 11. Februar 2017 verstorben. Morgen wäre er 100 Jahre alt. Seine Bücher begleiten mich nun schon seit über 40 Jahren. Ich freue mich über die Gedichte und Prosa aus seinem Nachlass, die jetzt unter den Titeln „Hannis Äpfel“ und „Der Alphornpalast“ erscheinen. Und ich hoffe, ich werde mich auch noch durch seinen gut 1400 Seiten starken Kolumnenband „Notizen und Details 1964–2007“ hindurchlesen.

Aber immer wieder denke ich auch an Kurt Marti, wenn ich pfeife. Pfeifen bedeutet mir viel, weil ich es spät gelernt habe. Auch da war ich ungeschickter als die anderen Buben, die mich dann ausgelacht haben, weil ich nicht pfeifen konnte. Darum ist es mir so viel wert, dass ich es doch kann. Doch seit Kurt Martis Notiz weiß ich, dass dieses Können auch ein Ablaufdatum hat, und ich kann mir vorstellen, dass ich irgendwann einmal ängstlich überprüfen werde, ob ich auch wirklich noch pfeifen kann. Aber jetzt pfeife ich selbstverständlich und mit Lust vor mich hin. Und weil das vielleicht nicht immer so sein wird, ist es ein besonderer Genuss – „Heilige Vergänglichkeit“.

Literaturhinweise:

  • Leichenreden. Deutscher Taschenbuch Verlag 2004 (Erstausgabe 1969)
  • Abendland. Gedichte. Luchterhand Verlag 1984
  • Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze. Radius Verlag 2010
  • Gedichte am Rand. Niggli, Teufen (Erstausgabe 1963) 1974,
  • Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen. Luchterhand Verlag 1979
  • Gott Gerneklein: Gedichte. Radius, Stuttgart 2006
  • Republikanische Gedichte. Luchterhand Verlag 1971
  • Rosa Loui. Vierzg Gedicht ir Bärner Umgangsschprach. Luchterhand Verlag 1967
  • Bärndütschi Liebesgedicht. Benteli Verlag 1979
  • Högerland. Ein Fußgängerbuch. Luchterhand Verlag 1990
  • Gedichte, Alfabeete & Cymbalklang. Wolfgang Fietkau Verlag 1966
  • Hannis Äpfel. Gedichte aus dem Nachlass. Wallstein Verlag 2021
  • Notizen und Details 1964–2007. Wallstein Verlag 2021
  • Der Alphornpalast. Prosa aus dem Nachlass. Wallstein Verlag 2021
  • Mein barfüßig Lob. Gedichte. Luchterhand Verlag 1998
  • Die Psalmen. Annäherungen. Radius Verlag 2004
  • Fromme Geschichten. Radius Verlag 2004
  • Gott im Diesseits. Versuche zu verstehen. Radius Verlag 2005
  • Gottesbefragungen. Ausgewählte Predigten. Hg. v. Andreas Mauz u. Ralph Kunz. TVZ 2020
  • Von der Weltleidenschaft Gottes: Denkskizzen. Radius Verlag 2011
  • Ein Topf voll Zeit 1928–1948. Nagel & Kimche Verlag 2008
  • Wen meinte der Mann? Gedichte und Prosatexte. Reclam Verlag 1990
  • Klaus Bäumlin (Hrsg.): Kurt Marti: Sprachkünstler, Pfarrer, Freund. TVZ, Zürich 2020
  • Pierre Bühler; Andreas Mauz (Hrsg.): Grenzverkehr. Beiträge zum Werk Kurt Martis. Wallstein Verlag 2016
  • Christof Mauch: Kurt Marti. Texte – Daten – Bilder. Luchterhand Verlag 1991
  • Christof Mauch: Poesie – Theologie – Politik. Studien zu Kurt Marti. Niemeyer Verlag 1992 (=Studien zur deutschen Literatur 118)
  • Ernst Rudolf Rinke: Der Weg kommt, indem wir gehen. Theologie und Poesie der Zärtlichkeit bei Kurt Marti. Radius Verlag 1990