Zwischenruf 21.2.2021, Ernst Sandriesser

Angst vor notleidenden Menschen

In den vergangenen Tagen werde ich oft gefragt, warum angeblich so viele Menschen in Österreich notleidenden Kindern aus Flüchtlingslagern an den Rändern Europas nicht helfen und diese nicht in Österreich aufnehmen wollen. Ich weiß es nicht und ich glaube auch nicht, was uns bestimmte Umfragen da vermitteln wollen.

Trotzdem frage ich mich, warum in den vergangenen Jahren diese eine bestimmte Angst zugenommen hat? Die Angst vor Bettlern und Menschen auf der Flucht, die Angst vor armen und hilflosen Menschen. Es ist für mich paradox, denn noch nie in der Geschichte ist es in Österreich so vielen Menschen so lange gut gegangen wie jetzt – auch während der Corona-Krise gilt das, wenngleich die Unsicherheit natürlich gestiegen ist. Wovor fürchten sich dann die Menschen? Nicht vor Kindern, sondern davor, dass zu viele Flüchtlinge in Österreich den eigenen Wohlstand gefährden könnten. Mir ist jedoch kein Fall bekannt, bei dem humanitäre Hilfe zu sinkendem Wohlstand im Inland geführt hätte.

Ernst Sandriesser
ist Direktor der Caritas Kärnten

„Liebt nicht mit Worten, sondern in Taten“

Als vor 100 Jahren die Caritas in Kärnten gegründet wurde, war die Armut unglaublich groß und angesichts der sozial ungerechten Zustände wurden in den folgenden Jahren der Acht-Stunden-Tag, Urlaub und Pensionen für Arbeiter, betriebliche Mitbestimmung und Kollektivverträge eingeführt. 100 Jahre später leben wir in einem der reichsten Länder der Erde mit einem Wohlstand, den es so noch nie gab. Die Solidarität hatte in Österreich immer einen hohen Stellenwert. Doch die Angst macht viele Herzen eng und viele Augen kurzsichtig.

Papst Franziskus fragt: Wie können wir dazu beitragen, die Ausgrenzung und die Leiden von armen Menschen zu beseitigen oder zumindest zu erleichtern? Und seine Antwort lautet: „Liebt nicht mit Worten, sondern in Taten“.

Selbst in Zeiten bitterster Not, wie in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, haben Tausende Menschen in Österreich Schutz und Hilfe erhalten – und manche von ihnen sind geblieben. Und deren Kinder und Enkel sind heute unsere Nachbarn und Freunde. Ich verstehe die Ängste vieler Menschen, aber ich habe kein Verständnis, wenn diese Ängste ausgenutzt werden.

Zwischenruf
Sonntag, 21.2.2021, 6.55 Uhr, Ö1

Gerecht und sozial

Von meinem Vater, der auch Bergsteiger und Skilehrer war, habe ich gelernt, dass jedem zu helfen ist, egal wie und warum sich jemand in Gefahr gebracht hat. Persönliche Ressentiments haben hier keinen Platz. Nach der Evakuierung und Ersthilfe kann man sich dann Gedanken machen, wie man in Zukunft weitere Unfälle vermeidet. Aber das Christentum macht deutlich: Auf keinen Fall darf man Verunfallte als Abschreckung liegen lassen oder hilflose Kinder im Dreck vegetieren lassen, um eine erzieherische Botschaft zu vermitteln. Weder im Lawinenhang noch auf Lesbos sehe ich den Pull-Effekt.

Aufgabe von Politik ist aus meiner Perspektive nicht, Menschen in Not zu belehren, sondern Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sie ihre Not überwinden können. Wer Menschen in Not belehrt, ohne ihnen zu helfen, gleicht einem Retter, der einem Ertrinkenden das Schwimmen beibringen will. Beides wird schiefgehen.

Am 20. Februar war der Welttag der sozialen Gerechtigkeit. Nicht alles, was wir als gerecht empfinden ist sozial, und nicht jede soziale Tat wird gerecht erscheinen. Menschen auf der Flucht zu helfen ist aber für mich beides – gerecht und sozial. Kinder, auf die wir heute vergessen, brauchen ein Leben lang Unterstützung. Doch werden sie heute unterstützt, leisten sie morgen einen Beitrag für die Allgemeinheit. Wenn sich in Österreich die Herzen öffnen und dadurch die Angst verschwindet, geht es allen besser.