Lebenskunst 21.2.2021, Gloria Kaiser

Auszüge aus Predigten von António Vieira SJ

„Und plötzlich hat sich Dunkelheit niedergelassen, die Gewissheiten sind weg, es gibt kein Ausweichen in andere Städte, andere Länder, in ferne Kontinente, die Dunkelheit ist überall, sie reicht von einem Ende der Welt zum anderen.

Wir tappen durch die Tage und trösten uns, es wird sich wieder lichten, ganz bestimmt, und doch schwingt die Frage mit – werden wir uns im Licht, im neuen Licht zurechtfinden, denn wir werden nicht mehr dieselben sein, unsere Seelen ahnen es bereits.

Gloria Kaiser
ist Übersetzerin und Autorin

Segen der Einsamkeit

Wie viele Gespräche werden geführt, manche Gebete werden geflüstert, oft fehlen die Worte, wohin könnten wir flüchten, wo könnten wir Orientierung finden. Jetzt wären wir sogar bereit, einer Predigt zu folgen, wer könnte verkünden, lehren, unterweisen. Wenn nur jemand das Dunkle, das Bedrückende in Worte fassen würde.“

Im Jahr 1655 predigte der lusitanische Jesuitenpater António Vieira über den Segen der Einsamkeit, wie es bei Johannes im Neuen Testament steht. „Und er zog sich wieder auf den Berg zurück, er allein“.

António Vieira sagt dazu: „Würde die Welt erkennen, was Derjenige sammelt, der sich sammelt, niemand würde vor der Einsamkeit, vor dem Rückzug zurückschrecken. Einsamkeit bringt die Erkenntnis, dass wir sagen können: Ich bin ein Mensch, der in sich wohnen kann.“

Dieser António Vieira wurde 1608 in Lissabon geboren; als er sieben Jahre alt war, übersiedelten seine Eltern mit ihm nach Salvador, der damaligen Hauptstadt Brasiliens. Vieira wurde in Salvador im Jesuitenkolleg erzogen und ausgebildet, er wirkte in Brasilien als Missionar, wurde Prediger und Berater des Königs D. João IV. von Portugal, reiste als Diplomat durch Europa, geriet wegen seiner kritischen Predigten in Konflikt mit der Inquisition von Coimbra, wurde mit Rede- und Predigtverbot belegt, nach Rom verbannt, wurde in Rom Seelsorger der abgedankten schwedischen Königin Christina; nach fünf Jahren wurde er vom Papst von allen Anklagepunkten freigesprochen, ging zurück nach Lissabon und später nach Salvador, wo er 1697 im damals biblischen Alter von 90 Jahren starb.

Liebe und Hass

Es gibt kaum einen Lebensbereich, den Vieira in seinen Predigten nicht beleuchtet – natürlich stets dem ehernen Predigtgesetz folgend, auf Basis des Evangeliums. In seinen über 200 Predigten spricht er auch immer wieder über die Liebe.

Lebenskunst
Sonntag, 21.2.2021, 7.05 Uhr, Ö1

„Die Liebe und der Hass sind die zwei gewaltigsten Regungen des menschlichen Willens.
Die Liebe hat das Gute zum Gegenstand, der Hass das Böse. Da das Böse oft im schönen Kleid kommt, und das Gute im schlichten Gewand, wird der Wille getäuscht und liebt das Böse und hasst das Gute.
Doch, Hochverehrte! – nehmen wir als Gewissheit die Macht der Liebe,
und jeder bedenke stets:
Willst du geliebt werden, so liebe!“

Vieira spricht über die Traurigkeit. Wie es im Johannesevangelium steht: „Keiner von euch fragt mich: Wohin gehst du?“ Trennungsschmerz und Traurigkeit sind allgemeine Krankheiten, Traurigkeit beschleunigt den Tod, und niemand entgeht der Traurigkeit, die Klügsten am wenigsten. Der Mensch frage seinen Körper: Wohin gehst du? Der Körper geht zum Grabe. Der Mensch frage seine Seele: Wohin gehst du? Die Seele geht zur Vollendung. Lenken wir unseren Blick nach oben und die dunkle Wolke der Traurigkeit verschwindet.

Vieira erinnert an das Wort eines weiteren Evangelisten, des Matthäus: „Wenn du willst, so kannst du.“ Allerdings sollte jeder Mensch sein Können und sein Wollen genau bemessen, und sein Streben, mehr zu wollen als zu können, ständig prüfen. Das Wollen ohne das Können ist schwach, das Können ohne das Wollen ist unnütz.

Die verborgenen guten Werke

In Rom, im Jahr 1671, wurde Vieira von Christina von Schweden gebeten, in der Hauskapelle ihrer Residenz im Palazzo Riario zum Thema „Die verborgenen guten Werke“ zu predigen. Christina verabscheute jede Form von Heuchelei und öffentlich zur Schau gestellte Frömmelei.

Vieira sagt in dieser Predigt: „Die Begierde, gesehen zu werden, ist groß. Dieser Ehrgeiz lebt über den Tod hinaus, die marmornen Grabmale zeigen das unsterbliche Verlangen, gesehen zu werden. Jedoch, die Tat der guten Werke soll nicht gesehen werden, denn, wer den Augen dient, der dient, um zu gefallen, und gute Werke sollten nur für die Augen des Allmächtigen getan werden.“

Lusitania war eine römische Provinz auf der Iberischen Halbinsel. Lusitania wurde zur lateinischen Bezeichnung für Portugal. Eine Predigt, die im lusitanischen Kulturkreis berühmt wurde, ist Vieiras Predigt zum Heiligen Rochus, sie wird auch die Pestpredigt genannt. Wie es zu ihr kam? Im Februar 1642 wurde António Vieira vom portugiesischen König, D. João IV, in heikler, diplomatischer Mission nach Amsterdam geschickt. Er sollte die Kaufleute und Händler, damals Juden und Neuchristen, die vor der Inquisition von Coimbra geflohen waren, zur Rückkehr nach Portugal bewegen. Vieira nahm die damals übliche Reiseroute mit Zwischenstation in Calais. Jedoch, in Calais konnte das Segelschiff nicht in den Hafen einfahren, denn der Hafen war gesperrt, da in Calais die Pest wütete.

Reichtum verändert

Die Konfrontation mit der Pest hatte auf António Vieira eine so nachhaltige Wirkung, dass er eine Predigt zum Todestag des Pestheiligen, des Heiligen Rochus verfasste.

Rochus wurde 1295 in Montpellier geboren, er war adeliger Herkunft. Da er sich für ein mönchisches Leben entschied, verzichtete er auf jeden Herrschaftsanspruch, übertrug das Erbgut, das Vermögen seinen Verwandten und Armen. Er pilgerte nach Rom und als er Jahre später nach Montpellier zurückkam, nahm man ihn gefangen, weil man ihn nicht mehr erkannte. (Rochus starb im August 1327 an den Folgen der Pest.)

Ist es möglich, dass sich das Aussehen, das Gesicht, der Habitus von Rochus in kurzer Zeit so verändert haben? Vieira betont, nicht das Aussehen von Rochus habe sich verändert, sondern Reichtum und Macht haben die Wahrnehmung seiner Verwandten verändert.

Das ist eine bittere Erfahrung, doch wir erleben sie jeden Tag. Reichtum und Position verändern das Verhalten unseres besten Freundes, er schaut uns mit anderen Augen an, er spricht mit uns in anderer Sprache. Was gestern Liebe und Freundschaft war, ist heute Autorität; was gestern für uns ein vertrautes Gesicht war, ist heute ein uns verschlossenes Antlitz.

Ich kenne dich nicht!

Kurze Worte, hart wie ein Schlag. Rochus hatte viele von der Pest Befallenen geheilt, und war selbst an der Pest gestorben.

„Hier, Hochverehrte!, muss ich zur Mahnrede ausholen“. Vieira spricht sein Auditorium fast in jeder Predigt auf diese Weise an. „Die Pest ist das schlimmste Übel. Bei anderen Krankheiten ist die größte Wohltat für uns, dass wir jene, die wir lieben, um uns haben. Bei der Pest ist der wichtigste Rat, den wir geben können – fliehe! Wir müssen jene wegschicken, die wir lieben, denn die Pest erreicht alle. Folgen wir den Stufen der Zerstörung durch die Pest: Die Verkehrswege werden unterbrochen, die Häfen werden geschlossen, die Seefahrt findet nicht mehr statt, Städte werden abgeriegelt, die Menschen müssen sich zurückziehen. Den Höhepunkt erreicht die Katastrophe im Zerfall der geistigen Verbindungen, der Freundschaften, der familiären Bande. Alles löst sich auf, denn sie müssen voreinander fliehen, Eltern fliehen vor den Kindern, die Kinder vor den Eltern.“

Doch die Pest rafft nicht nur Körper hinweg, sie schleicht sich in eine Gesellschaft, sie nistet sich ein, sie infiziert und tötet alles. Wenn Regierung, Wissenschaft, Religion, Moralauffassung vom Pestkeim befallen werden, bedeutet das katastrophale Fehlentscheidungen, die sich in einer Gesellschaft wie eine Seuche ausbreiten.

Ansteckungskraft des Guten

Es ist ein Bogen der vollkommenen Zerstörung, zuerst von der Außenwelt abgeschnitten, dann das isolierte Leben – niemand kann dem anderen vertrauen, schließlich müssen die Menschen sich zur Lieblosigkeit disziplinieren, um jene wegzuschicken, die sie in ihren Pestkreis hineinziehen könnten.

Und nun zur unausbleiblichen Frage: Wie konnte es soweit kommen? Die moralische Pest zeigt, so António Vieira, zwei markante Merkmale: Pouca fé und muita fé. Pouca fé bedeutet Kleinmut und ist eine Charakterschwäche, sie wird dem Einzelnen zum Verhängnis, breitet sich aus und steckt an. Muita fé bedeutet übertriebene Überzeugtheit von den eigenen Fähigkeiten, sie führt zu Passivität und Lethargie. Immer ist gegenüber den eigenen Handlungen Wachsamkeit gefordert, immer sollten wir uns prüfen und von übertriebener Überzeugtheit entfernen.

António Vieira folgend: Bekämpfen wir die Pest mit demselben Mittel wie sie sich verbreitet – durch Ansteckung. Das ist das Heilmittel. Seien wir peste da peste – das bedeutet: das Gute verbreiten – Tugend ist ansteckend.

António Vieira übersetzt ins Hier und Jetzt? Dem einen oder der anderen mag er zurufen: Seien wir wachsam und seien wir überzeugt von der Ansteckungskraft des Guten.