Dienstag, 6.4.2021, Wolfgang Müller-Funk

Zwischen Moderne und Melancholie

Zum 200. Geburtstag von Charles Baudelaire. Manche literarischen Werke tragen bereits im Titel die Magie des Verbotenen und Grenzüberschreitenden in sich.

Ich erinnere mich daran, dass allein der Titel von Baudelaires berühmtesten Werk „Les fleurs du mal“, „Die Blumen des Bösen“, seinerzeit eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf mich ausübte.

„Blumen des Bösen“

In Baudelaires Lebenszeit – 1821 bis 1867 – fallen Restauration und europäische Romantik, die Revolutionen von 1848, die Entstehung des modernen Paris, der Beginn der Industrialisierung, der Kampf gegen die Zensur. Einige Gedichte der „Fleurs du mal“ wurden in einem aufsehenerregenden Prozess wegen Blasphemie und Obszönität verboten.

Wolfgang Müller-Funk
ist Literaturwissenschaftler

In Zeiten systematischer medialer Entgrenzung und schnell konsumierbarem Sex scheinen sich die ästhetischen Provokationen des vielleicht ersten modernen Dichters erledigt zu haben. Aber der Schein trügt. Die Stimme in seinen Gedichten ist kräftig und vernehmlich geblieben. Häufig wechseln Tonfall und akustische Maske: Voyeur, Flaneur, Liebender, im Rausch Versinkender, prophetischer Dichter, Mahner. Die nicht nur sexuell schonungslosen, dichterischen Offenbarungen sind provokant neu und zugleich in eine genuin französische Tradition eingebettet, in einen skeptischen Moralismus, der sich und sein Publikum nicht schont – wie in den Eingangszeilen des ersten Gedichtes der „Blumen des Bösen“ von 1857.

„An den Leser: Dummheit, Irrtum, Sünde, Geiz hausen in unserm Geiste, plagen unseren Leib, und wir füttern unsere liebenswürdigen Gewissensbisse, wie die Bettler ihr Ungeziefer nähren.“

Hier sind schon die wichtigsten Motive Baudelaires versammelt: Laster und Reue, die Langeweile, der Ennui, die Schalheit einer Lust, „die wir auspressen wie eine altgewordene Orange“. Höchst selten preist der „satanische“ Dichter den Eros: „Ich liebe die Erinnerung an jene nackten Zeiten … Behende beide, Mann und Frau ergaben der Lust sich ohne Lüge, ohne Angst …“

Musik:

Guesch Patti: „CULTURE“ von Patti und Rose
Label: EMI 790563