Freitag, 9.4.2021, Wolfgang Müller-Funk

An eine Passantin

„Betäubend heulte die Straße rings um mich. Hochgewachsen, schlank, in tiefer Trauer, hoheitsvollem Schmerz, ging eine Frau vorüber; üppig hob und wiegte ihre Hand des Kleides wellenhaften Saum.“

Diese Verse entstammen einem der berühmtesten Gedichte Baudelaires: „A une passante“ („An eine Passantin“). In diesem Zyklus, den Pariser Tableaus, ist das lyrische Ich als Flaneur, als zielloser Spaziergänger unterwegs. Was er entdeckt, sind die Reste der mittelalterlichen verwinkelten Stadt und ihrer Gassen, die Halbwelt, Prostituierte, Bettlerinnen, Blinde und Bohemiens. All jene menschlichen Geschöpfe, die die moderne Großstadt erbarmungslos aussondert. Was ihm zudem begegnet, ist das neue Gesicht von Paris als einer lärmenden und anonymen Stadt, in der nur mehr die flüchtige Wahrnehmung, aber keine Begegnung mehr stattfindet.

Wolfgang Müller-Funk
ist Literaturwissenschaftler

Mischung aus Melancholie und Überdruss

Aus dieser Masse taucht für einen ganz kurzen Augenblick die Epiphanie einer Frau auf. Zunächst dominiert das Bild der Trauer. Aber dann versetzen ihr Gang und ihr Blick den Flaneur in Entzücken: „Leicht und edel setzte sie wie eine Statue das Bein. Ich aber trank wie ein Verzückter aus ihrem Auge, einem fahlen, unwetterschwangeren Himmel, die Süße, die betört.“

Doch der Augenblick lässt sich nicht festhalten. Es setzt ein, was Baudelaire so berühmt gemacht hat: Melancholie, Trauer über das Versäumte: (…) soll ich dich in der Ewigkeit erst wiedersehen? (…) du kennst den Weg nicht, den ich gehe, o du, die ich geliebt hätte, o du, die es wusste!“

Baudelaires Ennui, Mischung aus Melancholie und Überdruss, hat viele Facetten: Trauer über das Verschwinden, die Erfahrung von Leere und Sinnlosigkeit, Langeweile und Einsamkeit. „Ich habe mehr Erinnerungen, als wär ich tausend Jahre alt.“ Sie sind die verlässlichen Begleiter des modernen Großstadtlebens, die wir durch verschiedene Ablenkungen lindern, durch Drogen zum Beispiel, die in den „Fleurs du mal“ nicht zufällig eine wichtige Rolle spielen.

Musik:

Juliette Greco: „Paris canaille“ von Léo Ferré
Label: Music Tales/Spectre Media 2087528