Lebenskunst 12.9.2021, Wolfgang Treitler

Das Geheimnis des Gottesknechts – Bibelessay zu Jesaja 50, 5-9a

Der eben gehörte Text wird einem unbekannten Propheten zugerechnet, der am Jesaiabuch weitergeschrieben hat. In diesem sogenannten Gottesknechtlied, von denen es vier gibt, taucht eine rätselhafte Gestalt auf, ein Gerechter, den die Menschen verachten und misshandeln.

Das Geheimnis des Gottesknechts – Bibelessay zu Jesaja 50, 5-9a

Dieser Gottesknecht ist eine Personifikation des Volkes Israel, das von den Babyloniern zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. fast ausgelöscht worden war. Der Verfasser schrieb nun in einer Zeit, als das Weltreich der Babylonier nach der Mitte des 6. Jahrhunderts vor Christus zusammengebrochen war. Nichts mehr vom Glanz des Goldes war übrig, nichts mehr von einer geradezu göttlichen Größe des Herrschers.

Wolfgang Treitler ist katholischer Theologe und Judaist

Mit dem sogenannten Gottesknecht, von dem dieser Prophet schreibt, stellt der Autor eine Gegenfigur zu dieser untergegangenen Herrschaft vor. Diese Gegenfigur erscheint mir als erfrischend aktuell. Warum?

Sie hat etwas gehört und weiß, dass das jetzt für sie wichtig und entscheidend ist. Das bedeutet: Sie hat eine Aufgabe erfasst, die sie jetzt verbindlich leben muss. Und das verändert ihr Selbstverständnis grundlegend und macht sie zur Gegenfigur des babylonischen Gottkaisers, einem antiken Superstar erster Klasse.

Diese Gegenfigur ist also das Gegenteil eines Superstars, der sein Ich aufbläst.
Sie ist das Gegenteil von Influencern, die die Quoten ihrer Follower ins Millionenfache steigern müssen, um im Geschäft zu sein.

Sie ist das Gegenteil der Selbstinszenierer, die sich verkaufen, um öffentlich vorzukommen.

Sie ist das Gegenteil der gestylten Figuren, die sich redend am besten gleich dreifach ins Bild setzen lassen, um Allgegenwart und Allwirksamkeit zu erzeugen.

Sie ist das Gegenteil der sogenannten Besten der Besten, die auf dem Weg nach oben andere niedermachen müssen.

Kurz gesagt: Sie ist das Gegenteil derer, die gerne oder zwangsläufig Gott spielen, daher über ihren Verhältnissen leben müssen und hinter sich Korruption herziehen. Am gegenwärtigen Ausmaß von Korruption, sei es in Politik, Wirtschaft, überall, wo es um Macht geht, erkennt man unschwer, wie aktuell diese Gegenfigur des sog. Gottesknechts ist.

Sein Geheimnis ist einfach, seine Lebenskunst herausfordernd und dennoch wirklich befreiend.

Sein Geheimnis: Er lässt Gott Gott sein und macht sich nicht selbst zu einem Gott – dadurch verhindert er, eine ständige Gefahr für andere zu sein.
Seine Lebenskunst: Er hat etwas gehört, das ihn für eine bestimmte Zeit beansprucht, fordert, verpflichtet, etwas, das primär für seine Mitmenschen wichtig ist, nicht für ihn selbst. Ob er damit Glück hat oder sich aufreibt, ist ihm aufs Ganze gesehen nicht wichtig. Denn er weiß: Er und seine Aufgabe gehören der Zeit, die Zeit aber gehört Gott allein.

Und das befreit ihn. Denn es kommt die Zeit, eine Aufgabe wieder loszulassen, weil man etwas Neues gehört hat, das dann verbindlich wird, bis auch das einen wieder loslässt.

Die Lebenskunst dieser Gegenfigur würde ich so zusammenfassen: Gott Gott sein lassen und den Menschen zum Mitmenschen werden. Das ist gewiss nicht einfach in diesen korrupten Zeiten aufgeblasener Stars, Influencer, Selbstdarsteller, Halbgötter- so könnte man sie auch nennen.

Wie es sich jeweils verwirklichen lässt, Gott Gott sein zu lassen und den Menschen zum Mitmenschen zu werden, kann jede und jeder Einzelne selbst hören, wenn man Ohren hat zu hören.