Donnerstag, 16.9.2021, Jan-Heiner Tück

Dante – Stachel der Erinnerung

Im Inferno ist die Zeit wie Eis gefroren, im Purgatorio aber gibt es Bewegung. Hier herrscht die Sehnsucht nach baldiger Vereinigung mit Gott.

Es geht um die therapeutische Aufarbeitung von Hypotheken. Es muss ein Weg der Buße und Läuterung beschritten werden, der eine vollendungsbedürftige Biografie in den Zustand der Vollendung überführt. Es geht um ein Hinauf- und Hinübergehen. Hinzu kommt ein Zweites: Während in der Hölle jeder in kommunikationsloser Vereinzelung Qualen leidet, gibt es im Purgatorium Kommunikation und Hoffnung. Die Seelen, an denen Dante vorbeikommt, betteln um Fürsprache. Sie provozieren sein Mitleid, so dass er gerne bereit ist, ein Wort für sie einzulegen.

Jan-Heiner Tück ist Professor für Dogmatik an der Universität Wien

Das wechselseitige Eintreten füreinander und auch das gemeinsame Gebet bestimmt die Situation. Für die Büßenden aber gibt es den Stachel der Erinnerung, die „puntura de la rimembranza“, der sie den Schmerz über die Taten der Vergangenheit noch einmal durchlaufen lässt. Es gibt kein leichtes Vergessen oder gar Verdrängen, die Wahrheit der Lebensgeschichte muss mit ihren dunklen Stellen noch einmal durchlaufen werden, erst dann kann der heilsame Fluss des Vergessens durchquert werden, die Lethe, die alle Erinnerung an die Last der Sünden wegnimmt.

Zugleich gibt Eunoe, der andere Fluss, die Erinnerung an alle guten Taten zurück. Erst danach erfolgt die Verwandlung, die Dante ins Paradiso hinübergleiten lasst. Dante bemüht an der Schwelle zum Paradies das Verb „trasumanar“, um anzudeuten, dass der Mensch sich am Ende selbst überschreitet, um seine Bestimmung zu erreichen. Nicht durch technische Perfektion oder ein digitales Double wie in den Selbsterlösungsnarrativen des Transhumanismus, sondern durch Gottes Gnade, die den Menschen über sich selbst hinausführt und vergöttlicht.