Zwischenruf 19.09.2021, Regina Polak

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Es war ein tragischer Jahrestag, der medial sehr präsent war – der 20. Jahrestag des Terroranschlags islamistischer Extremisten in den Vereinigten Staaten. Seit damals steht der Islam auch in Europa im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit – und Millionen Musliminnen und Muslime unter Generalverdacht.

Laut empirischer Studien lehnt durchschnittlich ein Drittel der Bevölkerung jedes europäischen Landes Muslime als Nachbarn ab. Bereits die Europäische Wertestudie 2010 hatte gezeigt, dass diese Ablehnung vor allem in jenen Ländern zunimmt, in denen politische Parteien der Mitte antimuslimische Rhetorik übernehmen und damit Stimmung und Stimmen machen. Antimuslimische Ressentiments haben ihre Ursache demnach nicht nur in berechtigten Ängsten und Sorgen angesichts religiöser Extremisten, sondern sind auch politisch und medial bewusst inszeniert.

Regina Polak ist katholische Theologin und Religionssoziologin

Trotz der verständlichen Sorgen sehe ich keine Alternative zur Förderung einer Gesellschaft, in der Menschen verschiedener Herkunft, Ethnizität und Religion halbwegs friedlich miteinander leben lernen. Demographische Entwicklungen und Migrationen infolge von Klimakatastrophen lassen das Zusammenleben mit Musliminnen und Muslimen zur Normalität der Zukunft werden. Wie kann das Zusammenleben mit ihnen gelingen?

Freundschaften mit Musliminnen und Muslimen aufzubauen ist ein Element des Zusammenlebens. Denn je mehr Menschen erfahren, dass solche Freundschaften möglich sind, umso geringer wird ihre Bereitschaft, muslimische Personen primär als Bedrohung zu sehen. Nicht ohne Grund ist deren Ablehnung dort am stärksten, wo die wenigsten leben oder kaum Kontakte bestehen.

Freundschaft mit Musliminnen und Muslimen ist ein Gegengift gegen die Vorstellung, Zusammenleben sei nur möglich, wenn sich die Minderheit anpasst und ihre kulturell-religiösen Eigenheiten aufgibt. Eine solche Vorstellung kann Beziehung offenbar nur als Machtverhältnis denken, als Kampf um Vorherrschaft oder Untergang des Eigenen. Freundschaft hingegen verstehe ich als Beziehung zwischen Verschiedenen auf Augenhöhe. Freundinnen und Freunde freuen sich über die Gemeinsamkeiten, die sie entdecken und teilen. Sie freuen sich aber auch über die Unterschiede und spornen sich dadurch in ihrer Entwicklung an. In einer Freundschaft muss keiner fürchten, sich um des Anderen willen selbst aufgeben zu müssen. Zu einer echten Freundschaft gehören aber auch Kritik und Konflikte – jedoch auf der Basis des Vertrauens, der Wertschätzung und Zuneigung. Oder wie Mark Twain es formuliert: „Die eigentliche Aufgabe des Freundes ist, Dir beizustehen, wenn Du im Unrecht bist.“ Wenn ein Freund, eine Freundin im Unrecht ist, stimme ich nicht zu, sondern führe die nötigen Konflikte. Aber er, sie wird nicht verstoßen. Ich streite mit meinem Gegenüber, nicht gegen ihn oder sie.

Freundschaft ist kein politisches Programm. Aber sie ist der Humus, auf dem eine Gesellschaft gedeihen kann, in der Muslime als Mit-Menschen anerkannt und politische Ideen entwickelt werden, die einfallsreicher sind als Ablehnung und Abschottung. Ich bin überzeugt, wenn es mehr solcher Freundschaften gibt, ändert sich das gesellschaftliche Klima.