Lebenskunst 10.10.2021, Martin Jäggle

Von der Notwendigkeit der Weisheit – Bibelessay zu Weisheit 7, 7-11

„Liebt Gerechtigkeit, ihr Richter der Erde“. Mit diesen Worten beginnt das Buch der Weisheit, aus dem soeben eine Lobeshymne auf die Weisheit zu hören war: „Mehr als Gesundheit und Schönheit liebte ich sie … zugleich mit ihr kam alles Gute zu mir“ und „unzählbare Reichtümer“.

7 Ich betete und es wurde mir Klugheit gegeben;
ich flehte und der Geist der Weisheit kam zu mir.
8 Ich zog sie Zeptern und Thronen vor,
Reichtum achtete ich für nichts im Vergleich mit ihr.
9 Einen unschätzbaren Edelstein stellte ich ihr nicht gleich;
denn alles Gold erscheint neben ihr wie ein wenig Sand
und Silber gilt ihr gegenüber so viel wie Lehm.
10 Mehr als Gesundheit und Schönheit liebte ich sie
und zog ihren Besitz dem Lichte vor;
denn niemals erlischt der Glanz, der von ihr ausstrahlt.
11 Zugleich mit ihr kam alles Gute zu mir,
unzählbare Reichtümer waren in ihren Händen.

WEISH 7, 7–11

Der unbekannte Schreiber legt seine Worte in den Mund des König Salomo, dem Inbegriff eines weisen Herrschers, und fordert zu einem Leben in Gerechtigkeit auf.

Das Buch ist im Original in griechischer Sprache geschrieben, verfasst wohl von einem oder mehreren hellenistisch geprägten Juden, und gehört somit nicht zur Hebräischen Bibel. Deshalb hat es Martin Luther, weil es – wie er es ausgedrückt hat – „doch nützlich und gut zu lesen ist“, in seiner deutschen Bibelübersetzung im Anschluss an das Alte Testament unter apokryphe Literatur angeordnet. In der katholischen Tradition ist es Teil des Alten oder auch Ersten Testaments.

Verblüffend ist die Ähnlichkeit der Entstehungszeit dieses biblischen Buches im 1. vorchristlichen Jahrhundert mit der Gegenwart. Es war eine Situation der krisenhaften Weltunordnung, von der die Großstadt Alexandria besonders betroffen war. Damals profitierten die Reichen und Mächtigen von der Krise, die Gruppe der Menschen ohne materielle Absicherung und politischen Einfluss aber wurde immer größer. Das Buch der Weisheit erinnert die Mächtigen daran, dass sie wie alle Geborenen sterblich sind, die Weisheit aber unvergänglich ist. Wenn sie Weisheit hätten wie Salomo, würden sie ihren Besitz und ihren Einfluss zugunsten der Armen und Machtlosen einsetzen.

Martin Jäggle

ist katholischer Theologe.

Salomo freut sich über all die Reichtümer, die die Weisheit mitbrachte, „weil die Weisheit lehrt, sie richtig zu gebrauchen“, (7,12) – so heißt es weiter im Text. Der richtige Gebrauch wird klar benannt, wenn Salomo sagt: „Neidlos gebe ich weiter, ihren Reichtum behalte ich nicht für mich“ (7,13).

Die Leichtigkeit, die an der Weisheit erkennbar ist und die sie eröffnet, diese kindliche Leichtigkeit führt die Bibel anschaulich vor Augen mit dem Bild von der Weisheit, die vor aller Zeit vor Gott spielte: „Der HERR hat mich, die Weisheit, am Anfang seiner Schöpfung erschaffen“, steht im Buch der Sprichwörter. Als ein „geliebtes Kind“ war „ich … seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit. Ich tanzte … und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein.“ (nachzulesen im Buch der Sprichwörter 8,22-31 i.A.)

Der Theologe Hugo Rahner schreibt treffend: „Der spielende Mensch ist zunächst ein Mensch der ernsten Heiterkeit.“ Das Geheimnis der menschlichen und christlichen Lebensweisheit des spielenden Menschen „ist eine heilende Notwendigkeit“ für Menschen, „die in die Verzwecktheit des blöden Ernstes oder in die Sinnlosigkeit einer bloßen Diesseitigkeit verstrickt sind.“

Die Weisheit, in langer Tradition von einem Vogel symbolisiert, kann man nicht lehren und nicht lernen, aber man kann für sie offen sein. Nur wer sie ersehnt, sie erhofft und wie die Bibel meint, erbetet, erhält sie als Geschenk. Eine Voraussetzung dafür wäre, dass der je eigene „Vogel“ nicht der Weisheit letzter Schluss ist.