Lebenskunst 24.10.2021, Regina Polak

Schrei nach Hilfe – Bibelessay zu Markus 10, 46B-52

Es lohnt sich, laut um Hilfe zu schreien! Aber an einem öffentlichen Ort laut um Erbarmen zu rufen, war zur Zeit Jesu nicht gerne gesehen und ist es auch heute nicht. Es bedarf großen Mutes.

Auf der Straße bei Jericho werden viele Menschen ärgerlich, als der blinde Bettler nach dem Sohn Davids ruft, und befehlen ihm zu schweigen. Wer heute im öffentlichen Raum bettelt, wird bestenfalls von der Mehrheit ignoriert; in manchen österreichischen Städten gibt es rund um Einkaufszonen sogar ein Bettelverbot. Ich erinnere mich, dass bereits mein vierjähriger Sohn meine Angewohnheit, Bettler und Obdachlose auf der Straße anzusprechen, kritisierte: „Mama, das macht doch NIEMAND!“ ließ er mich wissen. Er hatte die gesellschaftlichen Spielregeln verstanden. Spielregeln, die auch der blinde Bartimäus im Markus-Evangelium verletzt.

Regina Polak

ist römisch-katholische Theologin und Vorständin des Instituts für Praktische Theologie an der Uni Wien.

In der traditionellen theologischen Auslegung gehört die Erzählung vom blinden Bartimäus zu den Wunderheilungen. Diese sollen bezeugen, dass Jesus von Nazareth der Messias ist und der Glaube an ihn heilen kann. Diese Überzeugung steht in der jüdischen Tradition, derzufolge die messianische Zeit anbricht, wenn Menschen geheilt werden. Die frühen Christinnen und Christen wollten mit dieser Erzählung belegen, dass diese Zeit in Jesus von Nazareth gekommen ist.

Auch in unserer Gesellschaft sind Leid und Krankheit oft unsichtbar. Viele Menschen halten es schlecht aus, öffentlich mit den schmerzvollen Seiten des Lebens konfrontiert zu sein. Und wer leidet oder krank ist, möchte anderen nicht zur Last fallen oder schämt sich sogar dafür. Denn Gesundheit, Stärke und Erfolg erfahren hohe Wertschätzung.

Die Erzählung von Bartimäus berichtet von einer anderen Dynamik im Umgang mit Leid und Krankheit. Sie ermutigt dazu, das eigene Leiden öffentlich sichtbar zu machen – auch wenn es der Umgebung nicht gefällt. Dieser Mut hat seine Quelle im Vertrauen auf die heilende Macht Gottes, von der in der Bibel erzählt wird. Aus christlicher Sicht wird diese Macht in Jesus von Nazareth erfahrbar. Jesus unterstützt diesen Mut: So wie Gott einst das Schreien der unterdrückten Hebräer in der ägyptischen Sklaverei gehört hat, hört auch er jetzt auf einen blinden Mann am Straßenrand. Damit die göttliche Heilkraft aber wirken kann, müssen weitere Bedingungen erfüllt sein.

Die Heilung geschieht nicht automatisch, Bartimäus muss etwas beitragen. So wird er von Jesus gefragt, was er ihm tun soll, und muss sein Anliegen vortragen. Zum anderen werden auch die umstehenden Menschen mit einbezogen: Sie müssen Bartimäus hereinholen. Heilung ist auch ein soziales Geschehen. Aber -so vermittelt es diese biblische Erzählung – wenn alle im Vertrauen auf Gott mitwirken, geschehen Wunder – Wunder, die Gott auch heute noch wirken kann und möchte, darauf hoffe ich.