Lebenskunst 1.11.2021, Christine Rod

Seligpreisungen – Bibelessay zu Mt 5, 1-12a

In der Katholischen Kirche wird heute das Fest Allerheiligen gefeiert. „Selig seid ihr …“ heißt es da in immer neuen Varianten in den so genannten Seligpreisungen im Matthäusevangelium, die jedes Jahr an diesem Tag im Gottesdienst feierlich verkündet werden. Was hat es mit diesen Seligen auf sich?

In der Antike waren die Seligen, die „Makarioi“, die Götter, weil sie die Unsterblichkeit besaßen. Später waren die Makarioi die Reichen, wegen ihres angenehmen Lebens, und noch einmal später die Toten, weil sie der Mühsal des Erdenlebens entkommen waren.

Hier im Evangelium geht es um lebende, gegenwärtige Menschen. Sie sind weder Götter noch reich noch schon tot, und sie werden in einer Weise beschrieben, die nach üblicher Logik alles andere als selig zu preisen ist. Hier ist von Armen, von Traurigen, von Hungrigen und Durstigen, von Friedensstiftern, von Gewaltlosen usw. die Rede.

Christine Rod

ist Generalsekretärin der Österreichischen Ordenskonferenz.

Apropos „gewaltlos“. Da die Seligpreisungen und die so genannte Bergpredigt des Jesus von Nazareth insgesamt, zu der die Seligpreisungen gehören, weit über die christliche Welt hinaus bekannt sind und beinahe so etwas wie Weltliteratur geworden sind, haben immer wieder kluge Köpfe dazu Stellung genommen. Der Hindu Mahatma Gandhi, der sein Land mit gewaltlosem Widerstand in die Unabhängigkeit geführt hat, hat u.a. aus den Seligpreisungen gelebt.

Die Seligpreisungen waren für ihn weit mehr als ein Ausdruck seiner persönlichen Spiritualität; sie haben ihn getragen, inspiriert und angestiftet zu seinem politischen Handeln. Aus ihnen ist die Befreiungsgeschichte eines ganzen Landes erwachsen.

Ich komme zurück zu den einzelnen Seligpreisungen im Evangelium. Auf den ersten Blick höre ich diese Benennungen nicht als attraktiv oder gar als erstrebenswert. Und doch spüre ich, dass es gut ist, sie nicht als Appelle oder Forderungen zu lesen, sondern dass sie so etwas wie Wirklichkeiten des Lebens beschreiben. Dass sie Verheißungen sind, so etwas wie Ahnungen, wie das Leben gelingen könnte.

Arm zu sein ist weder schön noch romantisch. Aber zu erkennen, dass ich bedürftig und auf andere angewiesen bin, das hat etwas Befreiendes. Traurig sein ist nicht lustig. Und doch bin ich dankbar, mir zugestehen zu können, dass es auch in meinem Leben Scheitern und Vergeblichkeit gibt. Und dass ich mit mir und mit anderen großherzig – also barmherzig – umgehen kann.

Frieden stiften und keine Gewalt anwenden – das erlebe ich als besonders anspruchsvoll. Aber eigene Interessen relativieren, Vergangenes ruhen lassen und mit Fantasie neue Wege suchen, das hat etwas, das nach Neuanfang schmecken kann.

Hunger und Durst haben nach Gerechtigkeit – nicht nur nach Gerechtigkeit für mich, sondern auch für andere. Da habe ich sehr großen Respekt davor. Und doch merke ich, dass ich – um wirklich leben zu können – aus meiner allzu kleinen Welt herausmuss. Dass ich bereit sein will, mich von diesem Leben betreffen zu lassen, auch wenn es an meine eigene Haut geht.

Und schließlich lese ich, dass den Menschen versprochen ist, Gottes Söhne und Töchter zu sein. Gottes besondere Lieblinge. Wie schön. Ja, das lässt mich schon manchmal glücklich, vielleicht sogar selig sein.