Zwischenruf 21.11.2021

„Alles hat seine Zeit“ – Biblisches zum Totensonntag

In evangelischen Kirchen wird heute, am letzten Sonntag des Kirchenjahres, der Ewigkeitssonntag gefeiert. Es wird der im Laufe des Jahres Verstorbenen gedacht und mancherorts werden Gräber besucht.

Zugleich wird der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass Gottes Güte über die Grenze dieses Lebens hinaus trägt. Dieser Sonntag ist für mich auch ein guter Anlass, sich der Begrenztheit des eigenen Lebens angesichts des Todes bewusst zu werden. Was und wer ist mir wichtig im Leben? Welche Spuren möchte ich hinterlassen – auch im Leben anderer Menschen? Wie gestalte ich meinen Alltag aus der Perspektive meiner Endlichkeit?

Jutta Henner

ist evangelische Theologin und Direktorin der Bibelgesellschaft.

Den Tod als Teil des eigenen Lebens zu akzeptieren, statt ihn einfach nur zu verdrängen, bringt eine realistische Sicht der Dinge und eröffnet die Möglichkeit, die Schwerpunkte im Leben neu zu ordnen. „Ich bin ein Gast auf Erden“ (Psalm 119,19) – so beschreibt der 119. Psalm in der Bibel menschliches Leben.

Der 90. Psalm denkt nach über die eigene Endlichkeit und den ewigen Gott, für den tausend Jahre wie ein Tag seien. Ja, der Beter nimmt das menschliche Leben in all seiner Zerbrechlichkeit und Vorläufigkeit wahr: Die Menschen „sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst, das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt“. (Ps 90,5). Schnell, allzu schnell, ja wie im Flug vergehe das menschliche Leben. Vieles, was im Moment so wichtig erscheine, erweise sich doch nur als „vergebliche Mühe“. Die Gedanken des Psalmbeters münden in das Gebet: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Ps 90,12).

Eine ungeschönte Sicht auf den für mich – wie für alle Menschen auch – unausweichlich sicheren Tod ist so gesehen überhaupt erst die Voraussetzung, um wirklich klug zu werden. Ein Verdrängen des Todes oder das Hinausschieben des Gedankens daran auf Zeiten von Alter oder Krankheit verhindert, dass die Wirklichkeit so wahrgenommen wird, wie sie einmal ist.

Dass Leben im Angesicht des Todes eine gewisse Gelassenheit schenkt, die keinesfalls mit Resignation oder Fatalismus zu verwechseln ist, weiß das biblische Buch des Predigers, auch Kohelet genannt: „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit…“ (Koh 3,1f). Der Prediger kommt angesichts dieser eigenen Begrenztheit zu dem Schluss, dass es nichts Besseres gebe, „als dass ein Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit; denn das ist sein Teil“. (Pred 3,22)

Pläne für die Zukunft seien zwar durchaus berechtigt, doch erst jeden Tag in seiner Routine ganz bewusst zu leben, schenke Zufriedenheit. Viel Besitz möge zwar für manche das Ziel des Lebens sein: Doch: Was kann man denn einmal davon mitnehmen? „Wie einer nackt von seiner Mutter Leib gekommen ist, so fährt er wieder dahin, wie er gekommen ist, und nichts behält er von seiner Arbeit, das er mit sich nähme.“ (Koh 5,14).

Die Bibel bleibt aber nicht bei der Sicht des Todes als Ende des irdischen menschlichen Lebens stehen. Menschen der Bibel haben guten Grund zur Hoffnung auf ihren ewigen Gott, denn er hat ihnen – so glauben sie es – schon dieses irdische Leben geschenkt. Er wird ihnen auch ein anderes, neues Leben schenken. Aber ich bin davon überzeugt: Nur wer erst einmal der unausweichlichen Realität des Todes ins Auge sieht, kann im Glauben darauf vertrauen, dass der Tod – jedenfalls bei Gott – nicht das letzte Wort hat!