Lebenskunst 21.11.2021, Radioessay Thomas Köhler

„Ein Hauch von Welt! Wessen Geist treibt Geschichte?“

Ist es ein „Hauch von Welt“, der Geschichte treibt: der Geschichte an- und betreibt? Am Anfang stehen Fragen über Fragen: Was ist das eigentlich: ein „Hauch“? Was ist das: die „Welt“? Was heißt „Geschichte“ und was „treiben“?

Der Hauch, das ist christlich gesprochen der Atem, mit dem Gott der Welt leben gibt. Darin waltet sein durch griechische Philosophie interpretierter Geist und Sinn, sein Nous und Logos – auf deren Basis Menschen in verantworteter Freiheit ihr Leben als Geschichte zwischen Erde und Himmel, eben Welt, gestalten.

Wenn ich – als humanistischer Christ – Antworten auf solche nicht nur physischen, sondern auch metaphysischen Fragen suche, finde ich sie interdisziplinär: natürlich in der Theologie und Philosophie, ebenso in den historischen und politischen Wissenschaften, aber gerade auch in der Psychologie. Denn „treiben“ hängt mit Trieb zusammen, und „Geschichte“ wird eben nicht nur ex post, im Nachhinein, bewertet, sondern auch ex ante, im Voraus, geplant.

Thomas Köhler
ist Autor und Psychotherapeut.

Dabei spielen neben mehr oder weniger rationalen Gedanken auch Gefühle eine wesentliche Rolle: Emotionen und Affekte wie Gier oder Geiz, Neid oder Zorn; ein Hunger nach Ruhm oder ein Durst nach Rache. Der „böse“ Hauch quasi: Ist wirklich das der „Hauch“, der Geschichte vor sich hin- und hertreibt?

Oder ist es doch eher der göttliche oder menschliche freie Wille zum „Guten“, der als Logos, als Sinn am (und im) Anfang steht: in freier Wahl zu bewegen, zu gestalten, zu erneuern? In Verantwortung vor der Schöpfung bzw. vor der Umwelt, die zu bewahren wir angehalten sind, um nicht nur jenseits, sondern auch diesseits zu überleben!

„Historia magistra vitae“? Ist die Geschichte die Lehrmeisterin des Lebens? Angesichts allen unfassbaren Leids in der aktuellen und ewigen Geschichte – gerade seit dem Jahr 2000 mit all den nahezu biblischen Plagen, die unsere Erde heimgesucht aber ebenso angesichts des Leids im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Weltkriege, und in den Jahrhunderten zuvor in deren Wechsel von Krieg und Frieden – haben wir da noch den Mut, die Courage, nach einem Sinn, einem Logos der Geschichte zu fragen? Und Courage hängt mit „Herz“, Coeur, zusammen …

Viktor Frankl, der mehrere Konzentrationslager überlebte und auf solchen fürchterlichsten Erfahrungen fußend die Dritte Wiener Schule der Psychotherapie – der Existenzanalyse und Logotherapie – gründete, hätte wohl geantwortet: Wir haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht dazu!

Der Sinn der Geschichte ist – gegen alle Theodizee, gegen alle Rechtfertigung Gottes angesichts des Leids in der Welt – „trotzdem Ja“ zu ihr zu sagen und unsere Freiheiten (egal welcher Religion wir nun angehören oder nicht) darin zu bewahren. Es ist ein gewissermaßen „heiliger“ Trotz des Menschen als „Hauch von Welt“ an uns selbst – oder, wenn wir an ihn glauben, an Gott.