Lebenskunst 5.12.2021, Radioessay Reinhard Kriechbaum

„Überheiliger“ und Kinderfreund – Geschichten vom Heiligen Nikolaus

Hyperhagios sagen die Griechisch-Orthodoxen zum heiligen Nikolaus. Das könnte man flapsig mit Überdrüber-Heiliger übersetzen. Er ist die absolute Nummer eins unter den himmlischen Fürsprechern im Land der Seefahrer.

Kaum ein markanter Uferpunkt irgendwo auf einer griechischen Insel, wo man nicht eine kleine Kapelle für den Patron der Schiffer findet. Dass aus mir ein leidenschaftlicher Hobby-Segler geworden ist, hat aber nicht damit zu tun, dass ich am 6. Dezember, also am Fest dieses Seefahrer-Patrons, Geburtstag habe.

Ich verknüpfe mit dem Heiligen Nikolaus die Kindheitserinnerung, dass ich eigentlich nie ein g’scheites Geburtstagsgeschenk bekommen habe. Immer nur rote Sackerln aus Krepppapier, gefüllt mit Süßigkeiten. Eine tiefe Abneigung gegen Datteln, an denen man sich die Finger klebrig macht, ist mir bis heute geblieben. Als Kulturjournalist hatte ich gelegentlich mit dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt zu tun. Der hat seinen Vornamen bekommen, weil er auch an einem 6. Dezember auf die Welt gekommen ist. Ich hab‘ ihn zu fragen vergessen, ob er auch keine Datteln mag.

Reinhard Kriechbaum
ist Ethnologe, Kulturjournalist und Buchautor.

Der Heilige Nikolaus also – im Binnenland ist er nicht als Beschützer der Seefahrer populär, sondern als Kinderfreund. Wie er dazu geworden ist? Vielen Heiligen wurden im fabulierfreudigen Mittelalter Legenden sonder Zahl angedichtet. Ein Dutzend Nikolaus-Geschichten kennt die im Jahr 1265 geschriebene Legenda aurea, eine Fundrube für nette Histörchen, die meist nur ganz am Rande mit der historischen Wahrheit zu tun haben.

Viel wissen wir ja nicht über den Herrn, der im vierten Jahrhundert in Myra als Bischof wirkte. Dieser Ort heißt jetzt Demre. Wenn Sie schon mal im türkischen Antalya Badeurlaub gemacht haben, sind Sie wahrscheinlich am Weg zum Flughafen dort vorbeigekommen. In der Kirchengeschichte taucht Nikolaus als Teilnehmer am Konzil von Nicäa, 325 n.Chr., auf. Da ging’s zuvorderst um die Personalunion von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist. Das war damals noch nicht christlicher Common Sense.

Arius und seine Anhänger, die Arianer, wollten die Trinität auseinanderdividieren; der göttliche Vater und der göttliche Sohn seien nicht wesensgleich und auch nicht wesenseins, so Arius, Jesus Christus also Gott sozusagen untergeordnet. Es heißt, dass sich Arius beim Konzil ob seiner „Irrlehren“ Ohrfeigen durch den erzürnten Bischof Nikolaus eingehandelt habe. Das gehört natürlich ins Reich der Sage, so wie all die anderen Geschichten rund um den Heiligen.

Auf Bildern und als Skulptur erkennt man Nikolaus an drei goldenen Kugeln, die er mitsamt Bibel in Händen hält. Diese drei Kugeln erinnern tatsächlich an seine Rolle beim Konzil in Nicaea. Sie stehen für die Dreifaltigkeit, um die dort so heftig gestritten worden war. Man hat sich später eine viel volkstümlichere Erklärung dazu ausgedacht: Als junger Mann soll Nikolaus drei Jungfrauen, deren Vater zu arm war, um sie mit einer Mitgift auszustatten, je ein Goldstück geschenkt haben. So habe er sie vor der Prostitution bewahrt.

Die makaberste mittelalterliche Story ist jene von einem Wirt, der drei Studenten ermordet, zerstückelt und eingepökelt haben soll. Nikolaus hat die jungen Leute wieder ins Leben zurückgeholt. Ob solcher Geschichten also ist Nikolaus zum Patron der Kinder und der Schüler geworden.

Im Mittelalter hat es einen netten Brauch gegeben: Einmal im Jahr hatten die Klosterschüler das Sagen. Sie durften einen Knabenbischof wählen. An diesem Tag haben sie ihren mönchischen Lehrern in einem Rollenspiel den Spiegel vorgehalten. Klosterschüler waren dann auch die ersten, die in Bischofs-Verkleidung herumzogen und nach Gaben heischten: Der Nikolaus als Brauchfigur war geboren.

Um 1500 gab es in Europa nicht weniger als 5.000 Kirchen, die Nikolaus geweiht waren. Damals war der 6. Dezember als Kinder-Beschenkfest schon gut eingeführt. Eines von zweien: Der zweite Tag im Jahreslauf, an dem Kinder auf Geschenken hoffen durften, war das Fest der Heiligen Drei Könige. Erst nach der Reformation hat das Christkind den Nikolaus und die Weisen aus dem Morgenland in der Rolle von Geschenkebringern abgelöst: Die Protestanten lehnten Heiligenverehrung ja strikt ab. Aber Luther, selbst Familienvater, wusste, dass man den Kindern einen Geschenketag nicht ohne Ersatz nehmen darf.

Wenn man von Nikolaus spricht, darf logischerweise der Krampus nicht fehlen. Dem Guten einen Bösen an die Seite zu stellen, ist nahe liegend. Der Krampus ist, wenn man es so sagen will, ein Produkt der schwarzen Religionspädagogik. Ein Teufel zum Anschauen und Fürchten, eine katechetische Figur. Nach den Klosterschülern haben schon im 15. Jahrhundert ledige Bauernburschen und Handwerksgesellen den Nikolausbrauch aufgegriffen, und ab da kommen die Teufelsverkleidungen ins Spiel – die Umgänge wurden immer wilder.

Nicht vergessen darf man auch auf figurenreiche dörfliche Volksschauspiele wie den Niglo-Umzug in Windischgarsten, die Nikolospiele in Bad Mitterndorf, in Öblarn im steirischen Ennstal oder das nur alle sieben Jahre stattfindende Nikolausspiel in Reith im Alpbachtal. Das sind oft Überreste eines handfesten Religionsunterrichts in Theaterform.

So haben die Jesuiten versucht, in der Zeit der Gegenreformation verlorene Seelen wieder für die katholische Kirche zurückzugewinnen. Der belohnende Nikolaus, dem sogar die rumorenden Teufel gehorchen müssen, war dafür ein anschaulicher Wegbegleiter.

Bei so viel Betriebsamkeit rund um den Nikolaus vergisst man fast, dass der Nikolaus-Brauch ein Hausbrauch ist. Wenn ich zurückdenke: Mir hat der Heilige leider nie die Aufwartung gemacht. Die roten Süßigkeiten-Sackerl sind immer vor der Türe gestanden, ein Kettenrasseln hat man von draußen gehört. Und ganz zufällig ist unmittelbar drauf immer eine Tante auf Besuch gekommen. Das zufällige Zusammentreffen hat mich bald einmal stutzig gemacht. Aber Kinder sind bekanntlich keine Spielverderber und halten dicht, auch wenn sie eigentlich die Sache mit Nikolaus und Krampus längst durchschaut haben.