Lebenskunst 26.12.2021

Bibelessay zu Apostelgeschichte 6, 8-10; 7, 54-60

Er sah den Himmel offen: Alle Jahre wieder ist es für mich so eine Art vorhersehbarer Schock: Nach dem Weihnachtsidyll, dem Kind in der Krippe, umgeben von Maria und Josef, von Hirten und singenden Engeln wechselt am zweiten Weihnachtsfeiertag das Bild schlagartig.

Der Text der Apostelgeschichte, der am Stefanitag gelesen wird, berichtet davon, wie Stephanus vor die Tore der Stadt getrieben und durch Steinwürfe ermordet wird. Wie nett, dass dieses Jahr der kleine Schock quasi ausfällt. Denn in diesem Jahr überdeckt das Fest der Heiligen Familie die grausame und blutige Szenerie. Schließlich passt diese so gar nicht zu Weihnachten. Oder?

Beim näheren Blick lassen sich freilich Verbindungen sehen zwischen den Erzählungen von der Heiligen Familie und von Stephanus – und auch zwischen den beiden Festen. Die heilige Familie, von der die Bibel erzählt, ist ja nicht das bürgerlich-romantische Ideal einer Familie – versammelt im trauten Heim um den eigenen Herd, privat und für sich, ein Bollwerk gegenüber den Stürmen und Gefährdungen des öffentlichen Lebens und des Zeitgeists. Wenn dieses Bild auch ganz gerne beschworen wird und nicht unerheblich dazu beigetragen hat, dass das Fest der Heiligen Familie eingeführt wurde – biblisch ist es nicht.

Mirja Kutzer
ist katholische Theologin

Vielmehr ist die Familie Jesu in einer prekären Situation – sie ist fern der Heimat, ohne ordentliches Dach über dem Kopf, ohne Hilfe in den Gefahren einer Geburt. Sie ist dies nicht freiwillig, sondern macht sich aufgrund eines Befehls des Kaisers Augustus auf den Weg, so erzählt es das Lukas-Evangelium. In der Heiligen Familie, dem neugeborenen Kind im Stall, zeigt sich die Verletzlichkeit des Lebens. Und auch, dass Menschen umstandslos dazu bereit sind, Verletzungen hervorzurufen. Wie eigentümlich, dass Gott gemäß dem Zeugnis des Neuen Testaments einen so fragilen, verletzlichen Ort wählt, um seinen Sohn zu schicken, von dem es heißt, dass er die Welt retten wird.

Um Verletzlichkeit geht es auch in der Stephanus-Erzählung. Stephanus tritt ein für seine Überzeugungen, für das Bekenntnis zu Jesus von Nazareth. Er tut dies mit seinen Taten und mit seinen Worten, von denen der Text sagt, sie seien voll Weisheit und Geist gewesen. Er tut dies schließlich mit seinem Leben. Offenbar ganz bewusst reagiert Stephanus auf die Gewalt seiner Gegner nicht mit Gegengewalt.

Er versucht nicht einmal, sich zu schützen. Er gibt sein Leben hin mit den Worten: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an.“ Damit ist in dieser Situation, wo sich die Verletzlichkeit des Menschen in ihrem äußersten Extrem zeigt, die Rede von Erlösung. Stephanus spielt hier auf die Worte Jesu am Kreuz an, kurz vor seinem Tod, der gemäß christlichem Zeugnis ein Erlösungstod ist: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk 23,34)

Die Texte sind in diesem Ineinander von Verletzlichkeit und Gewalt, von Schwäche und Rettung mehr als erstaunlich. Sie durchbrechen die gängigen Vorstellungen, dass Macht immer auf Stärke beruht und Gewalt am besten durch Gewalt beantwortet wird. Wenn ich den vorhersehbaren Schock des Stefanitags nicht einfach vermeide, sondern mich ihm aussetze, dann spüre ich etwas von der Macht, die diese Erzählungen ihrerseits entfalten:

Mir wird beim Hören immer wieder bewusst, wieviel Schutz Kinder, Familien, wir als Menschen brauchen; wie fatal die Kreisläufe von Gewalt und Gegengewalt sind; dass es immer höchste Zeit ist, sie zu durchbrechen – menschlicher zu werden. Und dadurch das wirklich werden zu lassen, was die Bibel Erlösung nennt. Vielleicht ist die Geschichte von Stephanus nötig, um dies auch in den Erzählungen von Weihnachten sehen zu können. Ich für meinen Teil habe beschlossen, Stephanus vom Fest der Heiligen Familie in diesem Jahr nicht überdecken zu lassen, sondern gerade daran zu denken – es ist Stefanitag.