Zwischenruf 16.1.2022, P. Martin M. Lintner

Einander verstehen trotz verschiedener Sprachen

Die Grundidee ist, dass jeder Mensch seine Sprache der Liebe spricht, das heißt, dass er einen ganz persönlichen Stil hat.

Der amerikanische Paar- und Beziehungstherapeut Gary Chapman hat 1992 ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: „Die fünf Sprachen der Liebe: Wie Kommunikation in der Ehe gelingt“. Mehrere Bücher sind gefolgt: Die fünf Sprachen der Liebe für Familien, für Kinder, für Singles“.

Die Grundidee von Chapman ist, dass jeder Mensch seine Sprache der Liebe spricht, das heißt, dass er einen ganz persönlichen Stil hat, wie er Lob und Anerkennung zum Ausdruck bringt, was für ihn Zweisamkeit bedeutet und wie er sie gestalten möchte, auf welche Weise er schenkt, wie er seine Hilfsbereitschaft zeigt und wie er Zärtlichkeit lebt. Umgekehrt ist es ebenso: Auf welche Weise Lob und Anerkennung ihm gegenüber zum Ausdruck gebracht werden müssen, damit es bei ihm ankommt, welche Geschenke ihn freuen usw., hängt wiederum von seinen persönlichen Empfindungen, Erfahrungen und von seinem Charakter ab.

P. Martin M. Lintner
ist Professor für Moraltheologie in Brixen

Die Kunst besteht nach Chapman darin, die Sprache der anderen Person zu erlernen, der ich meine Liebe mitteilen möchte, ohne dabei auf meine eigene Sprache zu vergessen, da ich die wichtigsten Dinge immer noch am besten in meiner Muttersprache, auch in meiner emotionalen Muttersprache, äußern kann.
Das kann manchmal ganz schön herausfordernd sein. Es erfordert Beziehungsarbeit im wahrsten Sinn des Wortes.

Warum soll ich mir das antun? Weil mir jemand wichtig ist. Miteinander sprechen, ist wie ein Brückenschlag zwischen zwei Menschen. Der jüdische Philosoph Emmanuel Lévinas hat in seinen Überlegungen über die Sprache sinngemäß gesagt: Ganz unabhängig davon, was ich dem anderen sage: dass ich mit ihm rede, bedeutet, dass ich eine Beziehung haben möchte, dass ich ihm etwas mitzuteilen haben, dass ich von ihm verstanden werden möchte. Das Sprechen bedeutet nach Lévinas, die eigene Welt zu öffnen, sie mit anderen zu teilen. Sprache schafft auf diese Weise einen gemeinsamen Raum, macht meine Welt zur geteilten und zur gemeinsamen Welt. Das trifft auf die genannten Sprachen der Liebe ebenso zu, wie auf die unterschiedlichen linguistischen Sprachen.

Eine Sprache lernen schafft Brücken zu anderen Kulturen, Traditionen und Ländern. Wo Menschen unterschiedlicher Sprachen zusammenleben, ist das Erlernen und Sprechen der anderen Sprache oft eine Voraussetzung dafür, dass Menschen nicht nur nebeneinander, sondern auch miteinander leben.

Ich komme aus Südtirol, einem Land, in dem mehrere Sprachgruppen beheimatet sind. In den Schulen ist entweder Deutsch oder Italienisch die Unterrichtssprache, die jeweils andere Sprache wird als erste Fremdsprache ab der 2. Klasse dazugelernt. Die Frage, ob es bereits vom Kindergarten und von der Volksschule an mehrsprachige Gruppen bzw. Klassen geben soll, ist bis heute ein politischer Zankapfel. Dabei geht es um mehr als darum, die andere Sprache zu erlernen und zu verstehen.

Die Grundfrage lautet vielmehr: Wollen wir ein Land so gestalten, dass es für die Menschen, die in ihm wohnen und die unterschiedlichen Sprachen sprechen, zur gemeinsamen Heimat wird, in der Menschen, nicht nebeneinander, sondern miteinander leben?
Diese Funktion von Sprache hat mich bei Levinas beeindruckt:
ich öffne meine Welt, ich teile sie mit, damit sie zur gemeinsamen Welt wird.