Lebenskunst 30.1.2022

Bibelessay zu Jeremia 1, 4-5, 17-19

Die Berufung Jeremias die im katholischen Gottesdienst in der heutigen Lesung vorgetragen wird, ist geradezu programmatisch für das Prophetentum, wie es die hebräische Bibel schildert.

Ein Prophet oder eine Prophetin handelt nicht aus sich heraus, er und sie sind Boten Gottes. Bereits im Mutterleib ist die Berufung und die Sendung beschlossene Sache. Von vornherein wird klargestellt, dass es sich hier nicht um eine frei wählbare Profession handelt. Wahre und falsche Prophetie unterscheiden sich demnach vor allem im Zugang zum Gott der Bibel. Nicht jeder, der, auch in guter Absicht meint, einen Beitrag zum Wohl der Welt leisten zu wollen, ist gleich ein Prophet. Nicht jede, die das Wetter vorhersagen kann, eine Prophetin.

Gerhard Langer
ist katholischer Theologe und Professor für Judaistik an der Universität Wien

Hellseher, Gurus und Esoteriker mögen sich berufen fühlen, ob sie berufen sind, entscheidet jedoch eine höhere Macht, wird in dieser Geschichte ausgedrückt. Propheten im biblischen Sinne verkünden auch keine eigene Botschaft, sie tragen das Wort Gottes zu den Menschen. Sie sind Sprecher und Sprecherinnen, sie bringen nicht ihre eigene Auffassung oder gar Ideologie vor, sondern dienen im wahrsten Sinne des Wortes Gott. Nur daher bekommt ihr Reden Gewicht, nur daher Legitimation. Dem Gewicht ihrer Botschaft entspricht das Gewicht der Last, die sie tragen. Prophetie ist kein Honig(sch)lecken.

Ein Prophet wie Jeremia wurde nicht gefragt, ob er Lust hätte, prophetisch zu handeln und zu reden. Er konnte es sich nicht aussuchen, ein Werkzeug Gottes zu sein. Er sollte nicht zögern und nicht zweifeln, sich nicht fürchten. Als Prophet hatte er zu verkünden, auch wenn er sich damit in Gefahr brachte. Kein Mensch konnte ihn schützen oder vor Verfolgung retten. Gott allein war es, der diese Rettung zusagte. Von Beginn bis zum Ende war und ist der prophetische Mensch auf diesen Gott ausgerichtet, mit ihm aufs Engste verbunden. Das Lebenszeugnis des Propheten Jeremia zeigt, wie ernst und wie schwierig seine Aufgabe war. Er verkündete nichts weniger als eine der größten Katastrophen, die Israel heimsuchen würden, die Eroberung Jerusalems und die Zerstörung des Tempels.

Er mahnte unaufhörlich zur Umkehr, aber er spendete auch Trost nach der Katastrophe. In aller Kürze heißt es in Kapitel 1,10 über seine Aufgaben, dass er „ausreißen und niederreißen, vernichten und einreißen“ aber auch „aufbauen und einpflanzen“ sollte. Jeremia folgt seiner Bestimmung trotz Bedrohung an Leib und Leben, er stellt sich in den von ihm verlangten Dienst. Aber er wagte es auch, sein Schicksal vor Gott zu tragen, mit Gott einen Rechtsstreit über seine Sendung auszufechten und dabei sogar seine Geburt zu verfluchen. Der Prophet ist also nicht nur Diener, nicht nur Sprachrohr ohne eigenen Willen. Er hadert und streitet mit Gott, ohne die Macht und Kraft dieses Gottes in Frage zu stellen.

Vielmehr dient die mutige Auseinandersetzung mit dem Stärkeren der Vergewisserung der eigenen Sendung. Tritt nicht ein, was der Prophet verkündet hat, wird er deshalb verspottet, dann richtet sich der Spott letztlich auch gegen den, der den Propheten sendet. Gott und Prophet brauchen einander also gegenseitig. Dies ist eine Erkenntnis, die auch das Gottesbild prägt. Denn folgt man den biblischen Erzählungen, hat Gott sich mit der Schöpfung des Menschen darauf eingelassen, mit Menschen und durch Menschen zu kommunizieren. Propheten und Prophetinnen sind Ausdruck dieses Wagnisses. Sie sind deshalb nicht nur Mahner und Tröster, sie sind ein Weg, um Gottes Willen in der Welt verstehbar zu machen.