Lebenskunst 9.2.2022

Bibelessay zu Lukas 6,17-26 (6. Sonntag im Jahreskreis)

Was ist gemeint mit dem Wort vom Reich Gottes? Von Franz Josef Weißenböck, katholischer Theologe und Publizist

Die Literatur über den eben gehörten Text füllt ganze Bibliotheken. Eine Frage ist dabei zentral: Was ist gemeint mit dem Wort vom Reich Gottes? Es wäre vermessen, hier und heute eine endgültige Erklärung zu versuchen. Ich möchte es bei ein paar Mutmaßungen bewenden lassen.

Franz Josef Weißenböck
ist katholischer Theologe und Publizist

Zunächst zu den im Text genannten Armen: Selig ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes, sagt Jesus. Wer sind diese „Armen“? Mit Sicherheit sind damit nicht nur die materiell Armen gemeint. Zu den „Armen“ zählen alle, die in irgendeiner Form bedürftig sind – und da denke ich mir: Sind wir nicht alle, ohne jede Ausnahme, in irgendeiner Form bedürftig? Menschen brauchen Zuwendung, Anerkennung, Liebe, wenn sie nicht arm sein sollen, durchaus im Sinn von „arme Teufel“. Und diese Armen nennt Jesus selig.

Die Begründung für das Glück dieser Armen folgt sogleich: denn euch gehört das Reich Gottes. Nun sind mit dem Wort Reich zuerst territoriale Vorstellungen verbunden. Wir denken an das Reich der Habsburger oder an das Reich der Römer. Die territoriale Idee lässt allerdings vergessen, dass sowohl in der hebräischen Formulierung als auch in der griechischen Übersetzung auch Herrschaft gemeint ist, und zwar die Königsherrschaft Gottes. Sowohl von ihren geschichtlichen Ursprüngen als auch von ihrer theologischen Aussage her, ist die Idee der Königsherrschaft Gottes jeder territorialen Reichsvorstellung vorzuziehen.

Was aber mag es bedeuten, wenn Jesus den Armen zusagt, dass ihnen das Reich Gottes gehört? Ich übersetze es so, dass diese göttliche Königsherrschaft gerade durch die Armen, die Ohnmächtigen, die Unterprivilegierten, die Benachteiligten ausgeübt wird. Unsere gewohnte Welt wird auf den Kopf gestellt: Unter der Gottesherrschaft sind die Schwachen die Entscheidenden, die Mächtigen, die Herrschenden – gerade durch ihre Machtlosigkeit. In der Konsequenz heißt das: Die Gottesherrschaft ist dort Wirklichkeit, wo kein Mensch über andere Menschen herrscht.

Aber ist das nicht eine Utopie, eine Vision für eine ferne, für Menschen nicht erreichbare und nicht erwartbare Zukunft? Und dazu: Ist nicht gerade die römisch-katholische Kirche ein Modell von Herrschaft – von Hierarchie, von heiliger Herrschaft? Dass es anders möglich ist, sagt ein anderes Wort, das von Jesus aus Nazareth überliefert ist: Die Gottesherrschaft ist in uns, unter uns, zwischen uns. Und deshalb sind die Armen selig – schon jetzt. Es liegt an uns – und ich meine nicht nur an Christinnen und Christen, sondern an allen Menschen.