Lebenskunst 20.2.2022

Bibelessay zu 1 Samuel 26, 2ff

Mach ihn nicht zuschanden, so wie er Dich einst. Denn das hinterlässt nur Wüste und Ruinen. Von Wolfgang Treitler, römisch-katholischer Theologe und Judaist

Eine dramatische Szene, die der Text aus dem ersten Samuelbuch erzählt: Die beiden Kontrahenten Saul und David sind auf gleicher Höhe und haben fast die gleichen Ansprüche: Saul, durch seine Salbung als König von Israel öffentlich deklariert, und David, ebenfalls schon zum König gesalbt, aber noch im Dienst Sauls. Zwischen beiden geht es hier um einen schweren Konflikt und um die Möglichkeit zur Vergeltung. Dass diese Geschichte in der Nacht spielt, spitzt das Drama zu. Denn Schlafende sind immer wehrlos, schutzlos, sie sind ausgeliefert.

Man erfuhr das einst im Internat. Unhörbar betritt um etwa halb fünf Uhr in der Früh der Hilfserzieher den Schlafsaal. Im Licht, das die Straßenlaternen von unten fahl an die Decke des Saales werfen, schleicht er zum Bett und schlägt mit der Kante seiner Hand dem schlafenden Buben in die Niere. Dieser fährt auf und fällt schmerzgekrümmt auf die Matratze zurück. Zwei Minuten später steht er, mit dem Hilfserzieher allein, im hellerleuchteten Studiersaal und fühlt nur Schmerz und Kälte. Keine Schonung. – Ein Geschehen aus fast zweieinhalb Jahren, die noch ganz anderes bereithielten.

Wolfgang Treitler
ist römisch-katholischer Theologe und Judaist

Der Bub hat späterhin, auf die Stunde gewartet, da er zur Gegenwehr fähig sein würde. Irgendwann, so war er sich sicher, werde er den Peiniger ein wenig von dem fühlen lassen, was er durch ihn erlitten hatte.
Und als sich die Möglichkeit viele Jahre später bot, tat er es nicht. Hatte er eine innere Warnung gehört? Oder kapitulierte er nun vor der Schwäche des ehemaligen Peinigers?

Wie David, so hörte er etwas sagen: Tu es nicht! Tu es nicht, auch wenn Du hunderte Gründe dafür hast. Ruf ihm zu, was er an Dir verbrochen hat. Schreib es ihm. Zeig ihm: Du kannst nicht vergessen, was an Dir verübt wurde. Aber räche Dich nicht. Mach ihn nicht zuschanden, so wie er Dich einst. Denn das hinterlässt nur Wüste und Ruinen.
Geh nach vorn. Bau etwas Gutes, etwas Besseres auf.

Bibelgeschichten, wie diese und viele andere, zeigen eine Tiefe menschlicher Erfahrungen im Guten, wie im Schlechten, von der ich immer wieder überrascht werde. Sie nehmen mich ein und deuten etwas aus dem Leben, und sie deuten es mit einer Tiefgründigkeit, die zeigt: Das ist altes, Jahrtausende bewährtes Menschheitswissen. Genau so, als Menschheitswissen, soll und kann die Bibel gelesen werden.
Die alte Bibel alle Tage neu. Eine Schriftensammlung von Menschen für Menschen. Und ihre Tiefe weist auf ein Geheimnis, das allein in den mitmenschlichen Geschichten und Erfahrungen geahnt werden kann.