Lebenskunst 27.2.2022

Bibelessay zu Jesus Sirach 27, 4–8

Sinnsprüche

4 Im Sieb bleibt, wenn man es schüttelt, der Abfall zurück; / so entdeckt man den Unrat eines Menschen in seinem Denken. 5 Der Brennofen prüft Töpferware / und die Erprobung des Menschen geschieht in der Auseinandersetzung mit ihm. 6 Den guten Boden eines Baumes bringt seine Frucht zum Vorschein; / so das Wort die Gedanken des Herzens. 7 Lobe keinen Menschen, ehe du nachgedacht hast; / denn das ist die Prüfung für jeden! 8 Strebst du nach Gerechtigkeit, so erlangst du sie, / wie ein Prachtgewand kannst du sie anziehen.
SIR 27, 4-8

Markus Schalgnitweit
ist Leiter der Katholischen Sozialakademie Österreichs,
katholischer Theologe, Priester und Sozialwissenschafter

Der größte Teil des biblischen Buches Jesus Sirach bietet nicht viel mehr als eine lose Aneinanderreihung von Aphorismen und Sprichworten. In solchen Verssprüchen bündeln sich in der Regel erfahrungsgesättigte Lebensweisheiten, zumeist in allgemein verständlichen und vertrauten Bildern, kurz und bündig und zuweilen auch mit einem Schuss Humor versehen – so klar und einfach, dass sie keiner großen Erläuterungen mehr bedürfen. Solche Sprüche sind gut zu merken und deshalb auch in der oft verwirrenden Unübersichtlichkeit des Alltagslebens leicht abzurufen, sodass sie hier rasch und unkompliziert Orientierung geben können. Sie sind also Kurzformeln zur Alltagsbewältigung – sofern sie denn stimmen bzw. auf den richtigen Kontext treffen. Und genau da liegt oft der Hund begraben.

„Im Sieb bleibt, wenn man es schüttelt, der Abfall zurück.“, behauptet etwa der 1. Vers der soeben gehörten Bibelstelle. Nun, das mag stimmen für jemanden, der Getreide, Mehl oder feinen Bausand aussiebt. Ein Goldwäscher dagegen wird darüber weniger sein Sieb als vielmehr seinen Kopf schütteln: In seinem Rüttelsieb bleibt ja keineswegs Abfall zurück, sondern das genaue Gegenteil davon!

Leider gibt es in unserer Alltagssprache auch sprachliche Bilder, die überhaupt falsch bzw. – wörtlich genommen – stumpfsinnig und mitunter sogar gefährlich sind, weil sie mehr Verwirrung als Orientierung stiften: so z.B. die weit verbreitete Rede vom „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zwischen Konfliktparteien. Das Bild stammt aus der mathematischen Bruchrechnung. Wer aber auch nur ein wenig Grundwissen darüber besitzt, weiß, dass der kleinste gemeinsame Nenner bzw. Teiler verschiedener Zahlen immer eins ist. Eins unter dem Bruchstrich ändert aber gar nichts an einer Position! Was also wäre mit der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen Konfliktpartnern gewonnen?

In der Realität muss es Kontrahenten in einem Interessenkonflikt doch immer um den „größtmöglichen gemeinsamen Nenner“ gehen, also um den maximalen Konsens oder Kompromiss, den alle Seiten noch als Basis ihrer Koexistenz akzeptieren und also miteinander teilen können! Wie hilfreich wäre es etwa gewesen, wenn Russland, die Ukraine und die NATO ihre jeweiligen Positionen nicht stets nur durch eins geteilt hätten, also mit diesem kleinsten gemeinsamen Nenner letztlich in ihren festgefahrenen Standpunkten verharrt wären, sondern wenn sie stattdessen nach einem in der Realität vielleicht kleinen, aber zugleich maximalen gemeinsam Nenner ihrer jeweiligen Interessen gesucht und auf dieser Basis die militärische Gewalteskalation vermieden hätten!

Krieg ist immer die letzte Konsequenz verantwortungslosen Beharrens auf der eigenen Position und der Unfähigkeit zum ehrlichen Kompromiss. Ein solcher kann aber nur gelingen im aufrichtigen Ringen um einen größtmöglichen gemeinsamen Nenner.

Fazit: Auch häufige, allgemein gebräuchliche Redewendungen sind kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Denn auch falsche Sprachbilder schaffen Wirklichkeit – nur eben leider: eine falsche und – wie wir gerade erleben müssen – eine Wirklichkeit, die niemand ernsthaft wollen kann.