Lebenskunst, 24.4.2022

Bibelessay zu Johannes 20, 19–31

Thomas: „Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe…"

Die Erzählung von Thomas, der an Jesus‘ Auferstehung zweifelt – eigentlich höre oder lese ich sie nicht in erster Linie. Ich sehe sie vor meinem inneren Auge. Und zwar gerne in der Version eines der berühmtesten Bilder des italienischen Barockmalers Caravaggio. Caravaggios dichte Szenerie reagiert auf den Ausspruch des Thomas: „Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.“


Mirja Kutzer
ist katholische Theologin, lehrt an der Universität Kassel

Im Bild hat Jesus sein helles Gewand zur Seite gezogen und die Wunde freigelegt, in die der Soldat mit der Lanze gestoßen hatte, um den Tod des Gekreuzigten zu überprüfen. Mit tiefen Falten der Konzentration wendet sich Thomas dieser Seitenwunde zu – dem Beweis, dass derjenige, der vor ihm steht, eben jener ist, der gekreuzigt wurde. Im Zentrum des Bildes steht der Finger des Thomas, der tief, eigentlich unerträglich tief, in die Wunde eingedrungen ist. Bis zum ersten Gelenk ist er in der Wunde verschwunden. Sein Druck hat den Wundrand hochgehoben und die Haut hochgewölbt. Der Finger dringt in den Körper ein, als wüsste er nichts davon, das Wunden Schmerzen bedeuten. Ich dagegen zucke jedes Mal zurück, wenn ich das Bild sehe. Das Bild spielt mit einem quasi körperlichen Schmerz, den ich beim Betrachten unwillkürlich empfinde.

Es ist eine sehr bewusste Entscheidung des Malers, die Thomasszene in dieser Weise darzustellen. Denn im Bibeltext steht nichts davon, dass Thomas Jesus tatsächlich berührt hätte. Caravaggio malt das Bild zwischen 1601 und 1603 – einer Zeit, in der sich nach und nach das naturwissenschaftliche Denken Bahn bricht. „Wissen“ wird weniger und weniger durch die überlieferte Religion, aus dem Glauben gewonnen, denn durch Empirie, durch Erfahrung. Es muss der wissenschaftlich-sinnlichen Überprüfung standhalten. Der Thomas Caravaggios ist quasi ein Empiriker – anders als der Thomas des Bibeltextes begnügt er sich nicht mit dem Augenschein. Er überprüft die Wunde, fast bewundernswert in diesem Bestreben des unbedingten Wissenwollens. Und doch ist die Szene auch unverkennbar gewaltsam. Als würde Thomas mit seinem Finger den Lanzenstoß noch einmal wiederholen.

Das Gewaltförmige der Szene wird im Bild gemildert durch die Darstellung des Auferstandenen. Jesus sieht nachsichtig auf Thomas hinunter, auf seinen Zügen liegen Ergebenheit und Geduld. Seine Hand umfasst das Handgelenk des Thomas und führt dessen Hand selbst an die Wunde. Anders als der konzentriert-emotionslose Blick des Thomas ist der Blick Jesus‘ ein Blick der Beziehung – einer Beziehung, die er mit dem Wissen wollenden Thomas nicht über Augenkontakt aufnehmen kann, sondern durch die Einladung, ihn dort zu berühren, wo er verletzt wurde. Dadurch erhält das Eindringen in die Wunde etwas Zwingendes. Als wäre es nicht möglich, Jesus zu erkennen, ohne seine Wunden zu erkennen. Als wäre es überhaupt unmöglich, jemanden als lebendig, als Menschen wahrzunehmen, ohne seine Verletzlichkeit zu spüren.

Was erhält im Bild die Oberhand? Das Wissen des Empirikers, das den Körper des anderen zum Objekt macht und die Gewalt der Lanze wiederholt? Oder wird Thomas die Beziehung neu aufnehmen, die Jesus ihm mit dem Berühren seiner Wunde anbietet? Ich jedenfalls kann es nicht erkennen. Die Augen des Thomas bleiben eigentümlich im Dunklen und geben nicht preis, wohin genau er blickt. Vielleicht wandern sie so wie meine auf das überirdisch helle Gewand des Auferstandenen. Und Caravaggios Thomas teilt mit mir die Hoffnung, dass unser verletzliches Leben bei Gott aufgehoben sein möge.