Lebenskunst 8.5.2022

Bibelessay zu Offenbarung 7, 9.14b-17

Der Text, der an diesem Sonntag in den katholischen Kirchen als zweite Lesung angesetzt ist, ist ein markanter jüdisch-messianischer Text. Das zeigt sich an der Szene, die er aufmacht:

Menschen aus allen Nationen haben Palmzweige in ihren Händen. Den Hintergrund dieser Zweige bildet Sukkot, das Laubhüttenfest. Es ist ein neuntägiger Festkreis, der 15 Tage nach dem Neujahrsfest und fünf Tage nach dem Jom Kippur, dem Versöhnungstag, begangen wird. Der Jom Kippur ist der höchste jüdische Feiertag des Jahres und begeht die Versöhnung der Menschen untereinander und mit Gott.

Rufe aus der Drangsal

Sukkot ist zum einen ein altes Erntefest, das groß im Tempelareal in Jerusalem gefeiert wurde; es wirkt beim Propheten Sacharja nach, der schreibt, dass am Ende der Tage alle Völker nach Jerusalem ziehen werden, um dort Sukkot zu begehen. Dieses Fest wird also zum Fest aller Völker – eine großartige Ansage. Zum anderen erinnert Sukkot an die Wüstenwanderung Israels nach dem Auszug aus Ägypten und gedenkt dieser unglaublichen Befreiung aus Drangsal, Sklaverei und Lebensnot. Der Schreiber der Offenbarung nimmt beides auf und entwirft ein großes, paradiesisches Bild der allgemeinen Befriedung, in der nichts und niemand mehr die quält, die aus der großen Drangsal gekommen sind.

Wolfgang Treitler
ist katholischer Theologe und Judaist

Wie sich die Zeiten doch gleichen: Als die Offenbarung geschrieben wurde, wüteten in Rom wahnsinnige Kaiser. Sie setzten ganz offen auf Gewalt, Zerstörung und Morden; sie spielten sich damit als Herren der Welt, ja als Götter auf, die willkürlich über Leben und Tod von Menschen entscheiden. – Heute wüten ein Mann und seine Gefolgsleute an vielen Fronten, in Syrien, in der Ukraine, in Kasachstan, in Georgien, in Tschetschenien. Gewalt, Zerstörung und Morden laufen vor ihm her und folgen den Spuren seiner Männer. Angst wird über Drohungen aufgebaut, ihnen folgt Terror.

Und doch sehe ich einen Unterschied: Nach 2000 Jahren unsagbar vieler Gewaltexzesse, die seit den Tagen der Offenbarung des Johannes auf Menschen niedergingen, wirken diese paradiesischen Bilder auf mich verbraucht, verbraucht und hilflos. Wer wendet denn wirklich die Tragödien, die Menschen einander bereiten?

Hoffnung bewahren

Am Ende der Offenbarung ruft der Schreiber selbst nach dem rettenden Messias – fast so, als traute er seinen eigenen Bildern und Visionen nicht ganz. Der rettende Messias soll das Ende der Zeiten sein, definitiv und endgültig. Er soll nicht nur das Ende der tödlichen Zeiten sein, sondern aller Zeiten, weil jede Zeit noch ihre Gewalt hervorbrachte. Dieser Ruf aus der Drangsal ist größer als all die Bilder, die ihm vorausgehen. Es ist ein Ruf nach dem Messias, dem Gesandten Gottes aus der Tiefe der Gewalterfahrungen, ein Ruf, der zweideutig bleibt. Denn: Warum kommt Gott nicht und macht dem allen ein Ende? Warum nicht?

Lebenskunst
Sonntag, 8.5.2022, 7.05 Uhr, Ö1

Glaubende Menschen haben eine Frage mehr, und das ist die Frage nach Gott und nach der Unverständlichkeit, die mit dieser Frage mitkommt. Wenn ich diese Frage aufgäbe, dann ergäbe ich mich endgültig dem Schrecken der Gewalt. Und doch: Eine Antwort auf diese Frage habe ich nicht, ich erwarte sie auch nicht mehr in meiner Lebenszeit und auch nicht für die Zeiten, die ich überblicke. Die Frage nach Gott und danach, warum er nicht kommt, will ich mir trotzdem bewahren, trotz allem, was dagegen und was gegen Gott spricht. Denn ohne diese Frage wäre ich endgültig hoffnungslos. Sie hält immerhin noch etwas offen, etwas Menschliches, etwas Zukünftiges.

Mit dieser Frage versuche ich, der Verzweiflung zu widerstehen und ein wenig Hoffnung zu bewahren.