Lebenskunst 15.5.2022, Gerhard Langer

Bibelessay zu Johannes 13, 31-33a.34-35

Es ist der letzte Satz dieses Evangeliumabschnitts, der mich regelmäßig nachdenklich stimmt. Genauso oft, wie man diesen Satz wiederholt, genauso oft wurde er in der Geschichte ad absurdum geführt. Neid, Hass, Gewalt sind auch in Gesellschaften nicht wegzudenken, die sich auf Christus berufen.

Mit dem Segen christlicher Würdenträger schlachten auch christliche Soldaten derzeit Menschen, unter ihnen auch Christinnen und Christen in der Ukraine ab. Jahrhunderte der Verfolgung von angeblichen Ketzern, Abweichlern, Andersdenkenden, aber auch die psychische und physische Gewalt an Kindern, die in ihrer Schwere erst langsam ans Tageslicht tritt, erschrecken zurecht viele Menschen, die sich zusehends von den Kirchen abwenden. Auf der anderen Seite fordern christlich motivierte Menschen einen vollkommenen Gewaltverzicht und treten damit das Selbstverteidigungsrecht brutal Angegriffener mit Füßen. Aber wie kann man dem Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt entfliehen, ohne in die unrealistische und verkitschte Träumerei eines „Wir haben uns alle lieb“ zu verfallen.

Gerhard Langer
ist katholischer Theologe und Professor für Judistik an der Universität Wien

Liebe soll sich am Vorbild orientieren

Diese Textstelle zeigt, dass die Liebe sich am Vorbild orientieren soll. So wie ich euch geliebt habe, so sollt ihr einander lieben, sagt Jesus im Johannesevangelium. Diese Liebe ist also weder bedingungslos noch grenzenlos. Es geht ganz sicher auch nicht um eine erotische Liebe. Im ersten Johannesbrief (5,2) heißt es vielmehr: „Hieran wissen wir, dass wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote halten“. Und „Gott“, diese Quelle des Lebens, wird ja oft auch mit Liebe gleichgesetzt.

Woran erkennt man demnach die Liebe zueinander. Man erkennt sie an den Taten. Die Menschenliebe orientiert sich an der Gottesliebe. Wie Gott die Menschen liebt und sie auffordert, ihn zu lieben, so sollen die Menschen sich untereinander lieben. Gott zu lieben aber bedeutet eben nicht, ihn toll und anziehend zu finden, sondern ihn zu achten und nach seinen Geboten zu leben. Diese Gebote umfassen den Umgang mit dem Menschen, aber auch mit der Natur, den Geschöpfen, mit dem, was unser Leben ermöglicht.

Insofern ist die Liebe zueinander auch ein Bekenntnis zur Ethik, zur Moral, zur Solidarität und Gemeinschaft. Sie ist ein Aufruf, unseren Lebensstil zu überdenken, unseren Egoismus zu zügeln. Aber sie bedeutet auch, entschlossen und entschieden gegen Hass und Ungerechtigkeit aufzutreten und dabei auch den Anderen oder die Andere zu kritisieren oder in Schranken zu weisen. Liebe ist daher nicht Friede, Freude, Eierkuchen, sondern eine an den Taten sich erweisende Aufgabe, die alle Menschen jeden Tag begleiten soll.