Lebenskunst 22.5.2022, Martin Jäggle

Bibelessay zu Johannes 14,22-29

Mein Vater war Schwabe. Als ich das erste Mal im Schwabenland war, sagte am Abend meine Tante zu mir: „Wenn dir in der Nacht kalt ist, nimm dir an Deppich.“ Da dachte ich mir: „Die haben aber merkwürdige Sitten.“, sagte aber nichts.

Was ich damals nicht wusste: Deppich war die Bezeichnung für eine Decke. Als Wiener konnte ich das nicht wissen. Solche Missverständnisse gab es immer wieder, aber je öfter ich bei den Schwaben war, umso mehr kannte ich mich aus.

Martin Jäggle
ist Theologe und Religionspädagoge

Verborgen vor der Welt

Ähnlich ist es bei Bibeltexten. Über manche Worte schütteln Menschen der Gegenwart, so wie ich damals, den Kopf, weil sich ihre Bedeutung erst aus dem jüdischen Zusammenhang erschließt, in dem sie und für den sie geschrieben sind. Es sind jüdische Texte, jedenfalls in Sprache und Denkweise jüdisch geprägte Texte. Je mehr ich damit vertraut werde, umso mehr erschließen sie sich mir.

Wie viele jüdische Texte beginnt auch der zuvor gehörte Ausschnitt aus dem Evangelium nach Johannes mit einer Frage, die leider in der offiziellen Leseordnung der katholischen Kirche weggeschnipselt ist: „Herr, wie kommt es, dass du dich nur uns offenbaren willst und nicht der Welt?“

Nicht nur damals ist es für die Schülerinnen und Schüler des Jesus aus Nazareth, die ihn als Messias, als Retter der Welt, bekennen, ein Problem, warum er der Welt verborgen bleibt, ja die Welt nichts davon wissen will. Die Antwort Jesu kommt aus der jüdischen Tradition: „Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten“.

Lebenskunst
Sonntag, 22.5.2022, 7.05 Uhr, Ö1

Mit dem Geheimnis des Lebens verbunden

Liebe ist in der jüdischen Tradition eine Frage der Praxis, auch für Jesus. Was bedeutet es, mit Jesus verbunden zu sein, konkret? Wer mit Jesus solidarisch ist, bewahrt sein Wort und orientiert sich an seinen Weisungen. So wird die Liebe zu Jesus im Leben erkennbar, weil sein Gebot erfüllt wird. Diese Liebe unterscheidet sich grundlegend von einer Liebe der „Schmetterlinge im Bauch“.

Die gelebte Praxis der an Jesus orientierten Liebe hat noch eine andere Seite, die im Evangelium so beschrieben wird: „Mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und bei ihm Wohnung nehmen.“ Diese Bewegung von oben nach unten ist die Antwort auf eine treue Liebespraxis. Gott lässt sich nieder, lebt in Treue mit. Für säkulare Menschen heute ist das Bild von „Gott nimmt Wohnung“, oder, wie es in der jüdischen Tradition lautet, von der „Einwohnung Gottes“, Schechina genannt, mehr als befremdlich.

Einen Zugang könnte die Erfahrung ermöglichen, ganz mit dem Geheimnis des Lebens verbunden zu sein. Das schafft innere „Ruhe“ und „Glück“. Dieses Geheimnis des Lebens nennt die Bibel Gott. Wo Gott sich in Treue niedergelassen hat und wohnt, können Menschen „Ruhe“, „Glück“, „Frieden“ und „Heilsein“ erfahren. Für das Volk Israel bedeutete und bedeutet es wohl noch, das Wort Gottes, die Tora, lesen und Gottes Weisungen erfüllen. Für die Schülerinnen und Schüler Jesu bedeutet es, die Worte Jesu zu bewahren und zu befolgen – was immer die Welt davon hält.