Lebenskunst 29.5.2022, Ingrid Fischer

Bibelessay zu Offenbarung 22,12-14.16-17.20

Das hoffnungsstarke Schlusskapitel eines aufwühlenden Buches: Dieses „Buch der Offenbarung“, die sogenannte Apokalypse oder „Offenbarung des Johannes“, am Ende der christlichen Bibel, stellt in gewaltiger Bildsprache das Ende der Weltzeit vor Augen.

Als Trostschrift für sieben verfolgte Christengemeinden Kleinasiens um das Jahr 70 geschrieben, hat sie ihren liturgischen Ort in der katholischen Leseordnung in der fünfzigtägigen Osterzeit, die bis Pfingsten dauert. Der Rundbrief enthüllt die Macht des Bösen, das scheinbar ungebrochen wirkt, als besiegt. Er schreibt gegen die Verzweiflung in den Gemeinden an – und gegen das Kalkül, sich mit den Mächten dieser Welt zu arrangieren. Die Vision stellt die irdisch ausbleibende Rettung dem Auferstandenen anheim, der von sich sagt: Ja, ich komme bald.

Ingrid Fischer
ist Psychologin, Humanbiologin und Theologin

Nicht um jeden Preis

Die großartige Vertonung dieser Thematik in „Das Buch mit Sieben Siegeln“ von Franz Schmidt gibt den Szenarien von Angst, Schrecken, Kämpfen, Nöten und Katastrophen eine sehr ernste Klanggestalt. So endet sein ekstatisches „Halleluja“ nicht im Triumph, sondern verklingt mit fast angehaltenem Atem in einem unisono geraunten Vers aus dem 11. Kapitel der Offenbarung. Darin kündigt sich die ersehnte Herrschaft des Christus als zorniges Gericht über diejenigen an, die in ihrem Wüten die Erde verderben: Wer die Erde „verdirbt“ – Leben und Lebensraum zerstört, Völker mit Krieg überzieht, Herrschaft mit Gewalt sichert, Menschen unterdrückt, benachteiligt, ausbeutet, an Leib und Seele missbraucht – wird sich dafür verantworten müssen.

Lebenskunst
Sonntag, 29.5.2022, 7.05 Uhr, Ö1

Der Verfasser dieses Schreibens ist kein Hellseher, sondern ein Zeitgenosse aller Generationen, er enthüllt nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart. Auch, wie es scheint, die heutige: Denn die Erde steht gerade jetzt vor dem Kollaps und das lange friedliche Europa wird wieder von einem Krieg erschüttert. Seine Einwohner und Politikerinnen, die Kirchen und die Zivilbevölkerung müssen nun – wie die sieben kleinasiatischen Gemeinden – abwägen und entscheiden, ob und wie sie wählen, was dem Leben und dem Frieden dient oder ob sie bei denen sind, die die Erde verderben.

Im Schlusskapitel der Offenbarung herrscht Gerechtigkeit: Die aus der Bedrängnis kommen, finden im himmlischen Jerusalem Gewissheit und Frieden, während „Mörder, Götzendiener und jeder, der die Lüge liebt und tut, draußen bleiben müssen“, wie es in Vers 15 heißt. Warum nur fehlt gerade dieser Vers im heutigen Lesungsabschnitt?

Wie aktuell ist doch seine Warnung, wie notwendig seine entschiedene Zusage, dem Eindringen und den Übergriffen des Bösen – endlich und endgültig – eine Grenze zu setzen! Können Christen, kann die Welt auf diese Hoffnung wirklich verzichten?