Zwischenruf 19.6.2022, Regina Polak

Bedrohungen

Immer wieder fällt mir in letzter Zeit das Bild „Die vier apokalyptischen Reiter“ von Albrecht Dürer ein

Sie verkörpern die Pest, den Krieg, die Teuerung und den Tod. Das Bild entstand in einer Zeit, die von enormen gesellschaftlichen Umbrüchen, rasanten Fortschritten in Wissenschaft und Technik, Krieg und enormen Ängsten geprägt war.

Ängste

Die Bedrohung durch Seuchen, auszuufern drohenden Krieg, Inflation, Hungersnöte und Klimakatastrophen erzeugen auch bei vielen Menschen heute apokalyptische Ängste. Wie kann man in einer solchen Zeit leben? Wie bereitet man sich auf die Permanenz von Krisen vor?
In Europa bemühen sich Regierungen um Energie-, Lebensmittel-, und militärische Sicherheit sowie Seuchenschutz. Versicherungen, Anlagenberater, Unternehmen bieten Katastrophenvorsorge-Pakete an. Aber wer kümmert sich um die Seele und den Geist von Menschen? Diese Frage ist in unseren Gesellschaften weitgehend individualisiert und hängt eng mit Bildung und finanziellen Möglichkeiten zusammen. Man verweist auf Psycholog*innen und Therapeut*innen; rät zur Entwicklung persönlicher Resilienz oder bietet spirituelle Praktiken an. All dies ist wichtig und hilfreich.

Regina Polak
ist Theologin und Religionssoziologin

Für mich die psychische und mentale Vorbereitung auf Krisen oder gar Katastrophen aber nicht nur eine Frage der individuellen Psychohygiene oder Spiritualität, sondern auch eine zutiefst ethische und politische Frage. Es geht auch darum, wie man für andere, für die Gesellschaft und die Politik sowie für die Zukunft unserer Nachkommen Verantwortung übernehmen kann.

Infolge von Gefühlen der Ohnmacht und mangels Handlungsmöglichkeiten blenden wohl viele Menschen diese bedrängenden Ängste aus und versuchen, so lange es geht wie bisher weiterzuleben. Ich halte das für gefährlich.

Denn die Stützen der Zivilisation können im Katastrophenfall rasch zusammenbrechen. Der Philosoph Günther Anders hat bereits 1956 in seinen Analysen zur Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution und deren Gefahrenpotential vor der Apokalypse-Blindheit gewarnt und zum Mut zur Angst aufgerufen.

Öffentlicher Diskurs

Deshalb wünsche ich mir breit angelegte öffentliche Diskurse über die Fragen, die wohl viele bedrängen: Wie gehen wir seelisch – nicht nur als Einzelne, sondern als Gesellschaft – mit unseren Ängsten um? Wie bereiten wir uns mental auf den schwierigen, aber notwendigen Umbruch unserer Lebensweise vor? Dazu bedarf es auch der gezielten Förderung nachbarschaftlicher, solidarischer und stabiler Gemeinschaften und Netzwerke, die über Familie und Freunde hinausgehen.

In der aktiven Zivilgesellschaft, in den Kirchen und Religionsgemeinschaften lassen sich solche bereits finden. Aber für den ernsthaften Krisenfall braucht es weitaus mehr an alltäglichem, sozialem Zusammenhalt, vor allem mit den Schwächsten der Gesellschaft, die immer die ersten Opfer in Krisenzeiten sind.

Zwischenruf
Sonntag, 12.6.2022, 6.55 Uhr, Ö1

Soziale Schutzschicht

In solchen Netzwerken und Gemeinschaften lassen sich Erfahrungen austauschen und Handlungsoptionen entwickeln. Vor allem aber sind sie es, die im Krisenfall wie eine zweite soziale Schutzschicht standhalten können. Und nicht zuletzt gelten verlässliche menschliche Beziehungen, gemeinsames Nachdenken und Tun als die besten Gegenmittel gegen die Angst. Mein Appell wäre: Aufbrechen und solche Gemeinschaften initiieren. Zusammenhalt zahlt sich aus!