LEBENSKUNST, 26.6.2022, Markus Schlagnitweit

Bibelessay zu Brief an die Galater 5.1, 13-18

„Das ganze Gesetz ist in dem einen Wort erfüllt: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst.“

Es irritiert und ärgert immer wieder aufs Neue: Für maßgebliche Autoritäten meiner Kirche haben die Jahrhunderte alte Tradition und frühere lehramtliche Äußerungen immer noch mehr Gewicht als die Orientierung an der Hl. Schrift. Seit Jahren verlaufen deshalb kirchliche Reformdiskussionen ergebnislos im Sand, etwa um die Weihe von Frauen zu kirchlichen Ämtern oder die Segnung gleichgeschlechtlicher Liebender. Wenn nämlich sonst schon kein theologisches Argument der Reformgegner mehr greift, lautet ihre letzte, Mantra-artige Ausflucht: Dafür gibt es keine Belege in der Tradition der katholischen Kirche. Was es also in der Vergangenheit nicht schon eindeutig gegeben hat, das taugt offenbar auch nicht für Gegenwart und Zukunft. Punkt.

Markus Schlagnitweit
ist Theologe und Sozialwissenschafter

Und dann bietet die liturgische Leseordnung meiner Kirche biblische Sätze wie: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“ und – im Tagesevangelium des heutigen Sonntags: „Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes.“ – Ja, geht’s noch deutlicher?!?

Die Affirmation christlicher Freiheit in Paulus‘ Brief an die Gemeinden in Galátien richtet sich eindeutig gegen ein krampfhaftes Festkleben an überlieferten religiösen Vorschriften, in diesem Fall an Normen des damaligen Judentums. Die erst im Entstehen begriffene Christenheit war gerade dabei, sich als eigenständige Religionsgemeinschaft zu emanzipieren.

Viele wussten dabei nicht, wie sie mit dem strengen religiösen Regelwerk umgehen sollten. Sollte es weiterhin Geltung behalten – oder gar nicht mehr – oder zumindest noch teilweise? – Paulus – einst selbst ein gesetzesfrommer Jude! – antwortet auf diese Fragen ungeheuer kühn: „… lasst euch nicht wieder ein Joch der Knechtschaft auflegen! Denn ihr seid zur Freiheit berufen, … Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe! Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort erfüllt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ Paulus kann sich damit auf eine Passage aus dem 3. Buch Mose stützen: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ Darauf kommt’s an! Das ist der Punkt! Alles andere ist nachrangig und manchmal sogar ein unwürdiges „Joch der Knechtschaft“.

Es ist schon klar: Menschliche Gemeinschaften – ob nun religiös, politisch oder privat begründet – benötigen für ihr Funktionieren und Gedeihen Regeln, die von ihren Mitgliedern respektiert und beachtet werden. Aber umgekehrt benötigen diese gemeinsamen Regeln auch ein Grundmaß an allgemeiner Akzeptanz und Plausibilität. Sonst verlieren sie ihre gemeinschaftsfördernde Kraft; sonst stützen sie nur noch eine leere Disziplin und dienen der krampfhaften Aufrechterhaltung eines lebensmüden status quo, der Sicherung von Machtverhältnissen und der Weitergabe von toter Asche anstelle lebendigen Feuers.

Es ist auch keineswegs so, dass Sitten, Gebräuche und Erfahrungen aus der Vergangenheit rundweg wertlos wären.

Lebenskunst
Sonntag, 26.6.2022, 7.05 Uhr, Ö1

Aber neue Herausforderungen benötigen zu ihrer zukunftstauglichen Bewältigung nicht Sorge um Systemerhaltung, sondern Orientierung nach vorne, Mut zu Visionen und Freiheit für Neues – oder mit einem weiteren Bild des Evangeliums: Neuer Wein braucht neue Schläuche, neue Herausforderungen also auch neue Antworten. Sonst gibt es keine gute Zukunft – weder für meine Kirche noch für unsere Weltgemeinschaft, die mit ihren traditionellen Konzepten von Wirtschaft und Politik spürbar und hart an ihre Grenzen stößt und die sich dennoch so schwer damit tut, sich davon zu befreien.